„Herausforderungen werden nicht ausgehen“: Baugenossenschaft Geretsried feiert 75-jähriges Jubiläum
Die Baugenossenschaft Geretsried wird 75. Herausforderungen prägten die Anfangszeit. Geschäftsführer Wolfgang Selig erzählt im Interview.
Geretsried – Zum 75. Mal jährt sich im November die Gründung der Baugenossenschaft (BG) Geretsried. Damals taten sich 19 Männer zusammen, mit dem Ziel „das Grundbedürfnis der Menschen nach Wohnraum zu befriedigen“, wie Franz Füger bei der 60-Jahr-Feier der BG im Jahr 2010 sagte. Füger war als letztes Gründungsmitglied im Dezember gestorben. Wolfgang Selig ist seit 2002 Geschäftsführer der BG. Im Interview mit Redakteurin Elena Royer spricht der 55-Jährige über Herausforderungen in der Anfangszeit, aber auch heute und wirft einen Blick in die Zukunft.
Herr Selig, heuer haben ja nicht nur die Stadt und die Gemeinde Grund zu feiern – auch die Baugenossenschaft wird 75. Wie hat das damals eigentlich alles angefangen?
Also angefangen hat es am Freitag, den 24. November 1950. Da hat der damalige Bürgermeister Karl Lederer mit einigen anderen Interessierten die Genossenschaft aus der Taufe gehoben, vor dem Hintergrund des massiven Wohnungsmangels.
Wie kann man sich das damals vorstellen?
Man redet ja heute gerne von einem angespannten Wohnungsmarkt. Das ist aber nichts im Vergleich zu den Problemen unmittelbar nach dem Krieg. Damals war die Genossenschaft das Mittel der Wahl, Eigentumswohnungen kannte niemand.
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Interessant...
Das Wohnungseigentumsgesetz entstand erst Jahre später, damals galt noch die Wohnungsgemeinnützigkeit. Alle Baugenossenschaften waren von Gesetzes wegen gemeinnützig und konnten deshalb auch Förderdarlehen des Freistaats bekommen. Die Genossenschaft verwaltet sich selbst und sie ist enorm gewachsen, wie die ganze Stadt. Geretsried hat zwischen 1950 und 1970 die Einwohnerzahl verfünffacht, ähnlich ist es auch mit unserem Wohnungsbestand gelaufen.
1970 schon um die 1100 eigene Wohnungen
Das ist beeindruckend!
Wir haben praktisch bei null angefangen und hatten 1970 schon um die 1100 eigene Wohnungen. Die Baugenossenschaft hat Aufbauarbeit geleistet und ganze Plätze aus dem Boden stampfen helfen, wie den Neuen Platz oder den Johannisplatz.
Was ist kurz und knapp der Zweck der Baugenossenschaft?
Wir schaffen Wohnraum, gerade auch für die unteren und mittleren Einkommensschichten, und natürlich auch Sozialwohnungen. Außerdem nehmen wir aktiv an der Stadtentwicklung teil, Stichwort Zentrumsgestaltung.
Was waren in der Anfangszeit die größten Herausforderungen für die Baugenossenschaft?
Es fehlte an Geld, an Material, an Fachkräften. Ungefähr 1960 hat sich das erst alles wieder eingespielt. Die ersten zehn Jahre waren auch geprägt von Doppelbelegungen. Man hat also zwei Familien in eine Wohnung eingewiesen. Und das waren keine Penthäuser. Das waren Wohnungen mit vielleicht nur 65 oder 70 Quadratmetern. Und trotzdem hat man erst in den späten 50er Jahren gesagt: eine Wohnung, eine Familie.
Platzbedarf hat über die Jahrzehnte zugelegt
Inwiefern hat sich das Wohnkonzept seit der Gründung gewandelt?
Der Platzbedarf hat zugelegt. Es war früher völlig normal, dass Geschwister sich ein Zimmer geteilt haben. Dass jeder sein eigenes Zimmer hatte, war Luxus, der normalerweise nicht üblich war.
Heute für die meisten unvorstellbar...
Es war auch so, dass Barrierefreiheit noch überhaupt keine Rolle gespielt hat, genauso wie das ganze Energiethema. Beim Schallschutz war man zum Beispiel auch noch deutlich lockerer. Man hat halt mehr Rücksicht nehmen müssen. Parken war noch nicht so relevant, denn Pkw waren in den 50er Jahren etwas für die Begüterten. Wodurch einige Parkprobleme aus der heutigen Zeit resultieren, weil die Viertel ursprünglich nicht dafür gemacht waren.
Abbruch manchmal sinnvoller als Modernisierung
Welche Meilensteine haben die Geschichte der Baugenossenschaft besonders geprägt?
Der erste große Meilenstein war meiner Meinung nach um das Jahr 1959/60, als man von der dörflichen, kleinteiligen Bebauung, sprich Erdgeschoss und erster Stock, dazu übergegangen ist, richtig hohe Häuser zu bauen. Wir haben dann ganz schnell begonnen, fünf-, sechs- oder achtgeschossige Häuser zu bauen. Denn wenn ich nur zweigeschossige Häuser baue, wächst natürlich auch die Zahl der Wohnungen langsamer.
Das klingt logisch. Wie ging es weiter?
Ende der 90er Jahre hat man das erste Mal auch wieder Häuser abgerissen und neu gebaut. Das machen wir bis heute, wenn Altbestände schon wieder so alt sind, dass ein Abbruch sinnvoller scheint als eine Modernisierung.
Wir sprachen vorhin über die Herausforderungen aus der Anfangszeit. Und heute?
Die größte Herausforderung für die Genossenschaft ist die Kostenentwicklung. Das sind vor allem die gestiegenen Energiekosten, aber auch die Materialkosten.
Menschenwürdiges Wohnen im Alter
Was beschäftigt Sie noch?
Wir müssen es möglich machen, menschenwürdig im Alter zu wohnen. Wir machen keine Luxusmodernisierung. Aber wir versuchen, unsere Wohnungen zeitgemäß zu sanieren. Gleichzeitig sollen sie bezahlbar bleiben.
Wie hat sich die Zusammensetzung der Mieterschaft im Lauf der Jahrzehnte geändert?
Die Vielfalt ist wesentlich größer geworden. Das zu handeln, ist nicht unmöglich. Wir bekommen es, glaube ich, ganz gut hin. Aber es wird schwieriger, weil Dinge, die in einem homogenen Kulturkreis selbstverständlich sind, nicht mehr von allen als allgemein gültig angesehen werden.
Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Etwa Mülltrennung oder Ruhezeiten. Da braucht es mehr Kommunikation, mehr Rücksichtnahme, weil eben die Gewohnheiten auseinanderdriften.
Liegt das an den unterschiedlichen Kulturkreisen, aus denen mittlerweile viele Mieter stammen?
Das will ich nicht nur auf kulturelle Unterschiede beziehen. Durch die Digitalisierung entwickeln sich die Lebenswelten in unterschiedliche Richtungen. Ein Informatikstudent, der nur digital unterwegs ist, merkt vielleicht gar nicht, wenn seine 80-jährige Nachbarin seit drei Tagen die Wohnung nicht mehr verlassen hat. Währenddessen vielleicht der Vorgänger von diesem Informatikstudenten selber Rentner war, bevor er ins Seniorenheim gewechselt ist und bemerkt hätte: „Die Frau Huber ist doch immer um 10 Uhr runtergegangen und hat den Briefkasten geleert, warum ist sie heute nicht runtergegangen?“
Dem wäre aufgefallen, wenn etwas nicht stimmt...
Ja. Weil Zusammenwohnen bedeutet nicht nur Hausen unter einem Dach, sondern hat auch einen sozialen und gemeinschaftlichen Charakter. Deswegen muss nicht jeder mit seinem Nachbarn ein Bier trinken gehen. Aber ein Minimum an gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtsamkeit ist schon sinnvoll und notwendig. Das wird schwieriger, ist aber machbar. Davon bin ich fest überzeugt.
Zentrum als spannendstes Viertel
Was ist für Sie das spannendste Viertel, das die Baugenossenschaft gebaut hat?
Ich würde sagen, das Zentrum. Aber hier trifft „mitgebaut“ eher zu. Natürlich sind wir noch lange nicht dort, wo wir sein wollen, weil wir im Kern immer noch die Grundstruktur von zwei Rüstungsfabriken in eine Stadt umbauen. Das darf man nicht vergessen. Es gibt keinen historischen Stadtkern, sondern wir haben ein Rathaus an der B11 und danach kommt schon der Wald.
Eher untypisch für eine Stadt.
Da kann keiner der heute Aktiven was dafür, aber man versucht natürlich, die Nachteile, die Geretsried hat, im Verhältnis zu Städten wie Wolfratshausen oder Tölz, die 800 oder 1000 Jahre alt sind, schrittweise aufzuarbeiten. Das ist ein langer Weg, aber das geht immer weiter. Ich sehe Geretsried da in die richtige Richtung laufen, aber natürlich geht das nicht über Nacht.
Blick in die Zukunft: Welche Großprojekte stehen noch auf der Liste der Baugenossenschaft?
Großprojekte in der Liga des BGZ2 ganz sicher nicht mehr so schnell. Finanziell ein riesiger Brocken, den man erstmal verdauen muss. Wir sind ja kein Großkonzern. Aber wir wollen an der Sudetenstraße am Beginn der Tattenkofener Straße ein Mehrfamilienhaus mit 40 bis 50 Wohnungen errichten, öffentlich gefördert. Das Zweite ist die Überarbeitung des westlichen Johannisplatzes. Das haben wir erst vor kurzem im Bauausschuss ausführlich vorgestellt (wir berichteten).
Was passiert noch?
Wir haben eine ziemlich große Menge an Modernisierungen vor der Nase. Heuer machen wir zum Beispiel Kernsanierungen am Marienburgweg und in der Altvaterstraße, wo wir die Leute ausquartieren und fast alle Gewerke rausreißen und erneuern.
Das hört sich nach viel Arbeit an...
Das ist natürlich ein Riesenaufwand, auch für die betroffenen Mieter. Aber es kostet nur etwa die Hälfte von dem, wenn man neu baut. Und man kann die Mieten niedriger halten.
Welchen Sinn wird die Baugenossenschaft in Zukunft haben? Wird sie eher verwaltend tätig sein?
Nein, ganz sicher nicht. Der Zweck der Baugenossenschaft bleibt der gleiche, wie die letzten 75 Jahre. Nämlich Wohnraum schaffen und Wohnraum erhalten. Kein Haus ist unsterblich. Man muss immer wieder modernisieren, renovieren, instandhalten, energetisch verbessern. Das heißt aber auch nachverdichten und zusätzlich bauen. Die Aufgaben bleiben die gleichen, aber die Schwerpunkte werden anders gesetzt.
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Das heißt?
Nach dem Krieg lag der Schwerpunkt sicherlich erst einmal auf Neubau. Die Qualität war nicht ganz so wichtig, aber das Tempo. Später hat man mehr Wert auf die Qualität gelegt. Heute sind Barrierefreiheit oder Klimaschutz relevant. Die Aufgaben gehen garantiert nicht aus und nur im Verwalten würde man untergehen. Wir werden nach wie vor mit Sicherheit jedes Jahr mehrere Millionen Euro in alle möglichen Maßnahmen investieren müssen und wollen. Und da werden die Herausforderungen nicht ausgehen, da bin ich mir ziemlich sicher.
Keine Kontroversen
Was macht Sie persönlich stolz auf die Baugenossenschaft? Und was wünschen Sie der Baugenossenschaft zu ihrem 75-Jährigen?
Ich wünsche der Baugenossenschaft zum 75-Jährigen weitere 75 erfolgreiche, friedliche, schaffensreiche Jahre. Stolz macht mich der Zusammenhalt in der Baugenossenschaft. Es gibt Genossenschaften, bei denen die unterschiedlichen Interessen sehr stark aufeinanderprallen. Bei uns gibt es keine großen Kontroversen. Darüber bin ich sehr froh, das ist keine Selbstverständlichkeit.
Das kann ich mir vorstellen.
Ich denke aber, dass das kein Verdienst allein der Baugenossenschaft ist, sondern dass das auch mit der Kommune Geretsried zusammenhängt. Wir gewinnen vielleicht nicht den Schönheitspreis für die romantischste Stadt, weil wir einfach viel Industrie und immer noch Altbestand aus der Nazizeit haben und natürlich keinen historischen Ortskern aus dem Mittelalter oder Barock. Aber es gibt meines Erachtens schon so ein gewisses Lebensgefühl in der Stadt, dass man gemeinsam nach vorne will.