„120 Tote am Tag“: Neue Recherche beziffert Russlands Verluste im Ukraine-Krieg

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Laut Napoleon werden am Ende einer Schlacht die Toten gezählt. Im Ukraine-Krieg geistern laufend Verlustmeldungen durch die Medien. Kann man den Zahlen vertrauen?

Moskau – „120 Tote am Tag – das ist der Preis, den Russland zahlt für den Überfall auf das benachbarte Land“, berichtet aktuell das russische Portal Medusa. Am Sonnabend, 24. Februar, jährt sich der Ukraine-Krieg zum zweiten Mal. Auf der Grundlage einer großen Untersuchung haben die unabhängigen Medienportale Medusa und Mediazona die Zahl der bisher in Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine getöteten russischen Soldaten auf 75.000 geschätzt. Der genaue Wert könne zwischen 66.000 und 88.000 Gefallenen liegen, schreiben die Portale. Ob diese Zahlen stimmen?

Die Investigativ-Journalisten teilten laut Informationen des Spiegel mit, sie hätten ihre Ergebnisse etwa aus der Auswertung einer Datenbank für Erbangelegenheiten, aus dem Sterberegister und statistischen Angaben sowie aus Informationen von Hinterbliebenen ermittelt. Beide Parteien im Ukraine-Krieg veröffentlichen immer wieder Zahlen, die keiner unabhängigen Überprüfung unterliegen. Auch westliche Geheimdienste schätzen die Zahlen an Gefallenen beider Seiten immer wieder aufs Neue. Aktuelle Schätzungen des US-amerikanischen sowie des britischen Geheimdienstes stammen aus dem Dezember vergangenen Jahres.

Maßlos übertrieben: Selenskyjs Einschätzung russischer Verluste

Das britische Verteidigungsministerium rechnete im Dezember mit etwa 70.000 russischen Kräften, die in der Ukraine getötet wurden. Laut den Briten waren das 50.000 reguläre Soldaten sowie 20.000 Söldner der Wagner-Gruppe. Dazu kämen bis zu 280.000 Verwundete. US-amerikanische Quellen sprachen von insgesamt 315.000 gefallenen und verwundeten russischen Soldaten – nach deren Schätzungen wären damit 87 Prozent der vor dem Ukraine-Krieg existierenden Streitkräfte Russlands aufgerieben.

Ein Soldat in einer vom Ukraine-Krieg verwüsteten Landschaft geht an einem gefallenen Kameraden vorbei.
Verluste im Ukraine-Krieg: Beide Seiten überbieten sich mit Horrormeldungen über schlichte Zahlen. Aber jeder Gefallene ist eine individuelle menschliche Tragödie. (Archivfoto) © Alex Babenko/dpa

Zu den Verlusten auf Seiten der Ukrainer äußerte sich Präsident Wolodymyr Selenskyj dahingehend, dass auf jeden getöteten Verteidiger fünf getötete Angreifer kämen. Westliche Beobachter schätzen das Verhältnis eher auf 1:2. „Die von der Ukraine veröffentlichten Zahlen zu russischen Toten sind nicht komplett falsch“, sagt der Amerikaner Henry Schlottman, der Zahlen aufbereitet für die Neue Zürcher Zeitung. Er könne darin Muster wiedererkennen. Also, wenn etwa die USA melden, dass gerade mehr russische Soldaten fallen, dann steigen auch die ukrainischen Zahlen, erklärt er. „Aber die Zahlen sind überschätzt. Ich vermute, dass die Ukraine getötete Soldaten mehrfach zählt, weil mehrere Einheiten den gleichen Abschuss melden“, sagt Schlottman in der NZZ.

Meine Empfehlung ist daher, auch mal zu sagen, dass wir etwas nicht wissen, was wir glauben zu wissen und was wirklich sicher ist. Diese Unterscheidungen werden zu wenig gemacht.

Auf Kriegsfuß mit den veröffentlichten Zahlen steht Deutschlands führender Militärhistoriker Sönke Neitzel, wie er gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland geäußert hat: „Was man bekannt gibt, sind letztendlich alles Zahlen, die eine politische Botschaft über den eigenen Erfolg verbreiten sollen. Sie mögen in einem gewissen Verhältnis zur Realität stehen, beschreiben diese aber nicht exakt“, sagt Neitzel. Ihm zufolge stehen die veröffentlichten Zahlen zu Verlusten grundsätzlich auf einem sehr wackeligen Fundament.

Einfach hochgerechnet: Zahlen basieren auf dem russischen Verkehr an der Front

Die Verlautbarungen beruhen gänzlich auf Vermutungen, weil keine der Kriegsparteien valide Größenordnungen veröffentlicht und keine unabhängige Überprüfung zulässt. Analysten orientieren sich auf Beobachtungen des Straßen- und Bahnverkehrs und daran, wie viele Soldaten oder Fahrzeuge in ein Frontgebiet transportiert werden, beziehungsweise, wie viele wieder herausfahren. Daneben werden Satelliten überwacht und der Funkverkehr abgehört. Daraus ergeben sich Lagebilder von der Intensität der Gefechtstätigkeit; heruntergebrochen auf einzelne Schlachten mit den entsprechenden Einheiten, von denen die ungefähre Stärke bekannt ist, können dann entsprechende Hochrechnungen angestellt werden.

Neitzel kritisiert daneben die schludrige Begrifflichkeit in der Berichterstattung: Unter Verlusten versteht er neben den Gefallenen auch die verwundeten Soldaten, die Vermissten und Gefangenen. Je nachdem, wie welche Seite die Begriffe nutzt, verschleiert sie ihre Botschaft. Dabei bezieht er beide Seiten mit ein; ihm zufolge sei tatsächlich in der Veröffentlichung keiner Seite eher zu vertrauen als der anderen; Neitzel rät daher generell zu Vorsicht im Umgang mit Zahlen. „Wir sollten uns darüber klar sein, dass wir nur wenig wirklich genau wissen. Wir bewegen uns bei den Todeszahlen wohl im Bereich von Zehntausenden. Aber mehr wissen wir nicht. Meine Empfehlung ist daher, auch mal zu sagen, dass wir etwas nicht wissen, was wir glauben zu wissen und was wirklich sicher ist. Diese Unterscheidungen werden zu wenig gemacht.“

Eindringliche Warnung: Zahlen zu Verlusten verdienen vor allem Misstrauen

Andere Wissenschaftler bezeichnen die Lage drastischer – als Teil eines Propaganda-Feldzuges, den beide Seiten gegeneinander führen. Danach lassen sich westliche Nachrichtendienste eher für ukrainische Interessen nutzen, weil Aggressor Russland unter genauerer Beobachtung steht wie die tagesschau berichtet. Die Ukraine wird in der Berichterstattung eher vernachlässigt, weil sie als Verteidiger auch grundsätzlich passiver reagiert. Michael Zinkanell, Direktor des Austria Instituts für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES), mahnt gegenüber der Tagesschau zu einem möglichst nüchternen Umgang mit den präsentierten Zahlen und vermeintlichen Fakten.

Seiner Ansicht nach sei aufgrund der Verworrenheit der Ereignisse vor Ort schlichtweg unmöglich, seriöse Daten zu erheben. Damit könne die Frage nach der Plausibilität nur hypothetisch beantwortet werden und die genaue Bezifferung der Verluste – personell wie materiell – sei von keiner Seite möglich, sagt Zinkanell. So lange die Gefechte laufen, werden die Zahlen zweckgebunden publiziert werden und sind daher mit Vorsicht. Der französische Kaiser Napoleon Bonaparte soll diesbezüglich stoisch gewesen sein – ihm wird der Aphorismus zugeschrieben, dass erst am Ende einer Schlacht die Toten gezählt werden.

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