Wegen ATACMS-Veto: Putins Gleitbomber parken provokant unter freiem Himmel
Putins Bomber-Basis Woronesch-Malschewo liegt in Raketen-Reichweite der Ukrainer; und seine Zerstörung in deren Interesse. Die USA bleiben aber stur.
Woronesch – „Obwohl es ziemlich albern erscheint, scheinen sie ihr Bestes zu geben, um die Flugzeuge zu panzern, die sonst leichte Beute wären“, sagte Steffan Watkins. Der Kanadier bloggt über Schiffe und Flugzeuge und hatte gegenüber dem US-Sender CNN spekuliert, welchen Wert der Schutz von unter freiem Himmel geparkten russischen Kampfflugzeugen mit alten Autoreifen hat. Wiederholt waren Bilder davon aufgetaucht – möglicherweise sollen sie vor Drohnen schützen oder die Aufklärung erschweren. Auf dem Luftwaffen-Stützpunkt Woronesch-Malschewo zeigt Wladimir Putin dagegen unverhohlen die Potenz seiner Luftwaffe – er weiß, dass der Ukraine die Hände gebunden sind.
„Der Luftwaffenstützpunkt Woronesch-Malschewo im Süden Russlands, 160 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, ist möglicherweise das wichtigste – und verwundbarste – Ziel Russlands“, schreibt aktuell das Magazin Forbes. Allerdings kommt aus den USA möglicherweise die Direktive, den Stützpunkt unbehelligt zu lassen. Für Beobachter erscheint das absurd: Forbes meldet, dass von diesem Stützpunkt das 47. Garde-Bomberregiment der russischen Luftwaffe mit Suchoi Su-34-Trägern die Gleitbomben-Angriffe auf die Ukraine fliegt. Entsprechend der neuen US-amerikanischen Doktrin müsste der Flugplatz also längst als legitimes Ziel gelten.
Angriff auf Russland: Experten wettern gegen Joe Bidens Veto
Forbes stützt sich auf Behauptungen des Open-Source-Infodienstes Frontelligence Insight, wonach Woronesch-Malschewo in Reichweite der in den USA hergestellten ATACMS-Raketen (Army Tactical Missile Systems) läge. „Die Ukraine könnte die gesamte dort stationierte Einsatzflotte außer Gefecht setzen, wenn ihr ein solcher Angriff gestattet würde“, mutmaßt Frontelligence Insight. Die Blogger erhalten Rückendeckung durch das Institute for the Study of War: Joe Biden sollte der Ukraine „gestatten, alle militärischen Ziele in den operativen und tiefsten rückwärtigen Gebieten Russlands mit von den USA gelieferten Waffen anzugreifen“, forderte das ISW, worüber Newsweek berichtet hatte..
„Kiew scheint eine klare Strategie zu verfolgen, die VKS entweder zur Räumung ihrer Stützpunkte im Umkreis von mehreren hundert Kilometern um die ukrainische Grenze zu zwingen oder eine übermäßige Menge an Luftabwehrsystemen für deren Verteidigung einzusetzen.“
Die Denkfabrik hatte jüngst eine Karte voller Markierungen veröffentlicht, welche Gebiete unter Wladimir Putins völkerrechtswidriger Besatzung in Reichweite amerikanischer Langstrecken-Raketen liegen. Klar ist: Der Flugplatz in Woronesch befindet sich sogar in Reichweite der mit 500 Kilometern reichweitenschwächeren ATACMS-Version, die die Ukraine schon länger nutzt. Forbes stellt aber parallel klar: „Die ukrainischen Streitkräfte haben andere Möglichkeiten, die Gleitbomber zu stoppen.“
Grundsätzlich hatte die US-Regierung Angriffe auf militärische Ziele gestattet: Laut Washington Post ermächtigt US-Präsident Joe Biden demnach ukrainische Kommandeure, „gegen russische Streitkräfte zurückzuschlagen, die sie angreifen oder einen Angriff vorbereiten‘ in und um Charkiw, nahe der Grenze im Nordosten der Ukraine“ wie die Post schreibt. Das hieße, die Ukraine dürfe zurückschießen, wenn sie angegriffen würde oder Militäranlagen kurz hinter der Grenze auszuschalten gedenke, formuliert ergänzend die Kyiv Post. Das ukrainische Charkiw und das russische Woronesch trennen keine 400 Kilometer.
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Putins Prestige-Bomber ein Wrack: Effektivität der ukrainischen Drohnen bewiesen
Das ISW ist ebenfalls unmissverständlich in seinen Analysen: Ukrainische Offizielle hätten regelmäßig auf die Notwendigkeit zusätzlicher Luftabwehrmittel und moderner Kampfflugzeuge hingewiesen, um den Luftraum ernsthaft erobern und am Himmel auf Augenhöhe mit den russischen Streitkräften kommen zu können. Alle ernsthaften Versuche seien letztlich aber im Sande verlaufen, und im Gegenteil hätten die russischen Streitkräfte „die anhaltenden Einschränkungen des ukrainischen Luftabwehrschirms ausgenutzt, um regelmäßig russische taktische Flugzeuge entlang der Front ins Rennen zu schicken, die großflächig Gleitbombenangriffe auf ukrainische Stellungen fliegen, um die laufenden russischen Offensivoperationen zu unterstützen“, schreibt das ISW.
Meldungen des Zentrums für strategische Kommunikation der ukrainischen Streitkräfte (StratCom) zufolge hätten die ukrainischen Streitkräfte in den ersten sechs Monaten dieses Jahres folgende Flugzeuge zerstört oder beschädigt: neun Su-25, eine Su-57, zwei MiG-31, etwa 13 Su-34, zwei Su-35, zwei A-50-Langstreckenradar-Erkennungsflugzeuge, eine Il-22M11 als Luftlandekommando und einen strategischen Bomber Tu-22M3. Gerade der Treffer des Su-57-Prestige-Bombers hat Russland geschmerzt. Anfang Juni will die Ukraine erstmals diesen russischen Tarnkappen-Bomber unter Feuer gehabt haben. Das berichtete die Hauptverwaltung für Aufklärung des Verteidigungsministeriums (HUR). Ob der Flieger beschädigt wurde oder zerstört ist, bleibt offen.
Patriots am Boden: Ukraine hofft auf sieben Systeme und benötigt 25 davon
Die Maschine wurde allerdings am Boden getroffen, zudem auf russischem Territorium – vermutlich durch eine Drohne. Die Ukraine bezieht sich auf Satellitenbilder eines Angriffs auf den Flugplatz Achtubinsk im Verwaltungsbezirk Astrachan, „589 Kilometer vom Kriegsgebiet in der Ukraine entfernt“, wie der ukrainische Geheimdienst über verschiedene Medien verlauten ließ. Damit haben die Ukrainer den Truppen Putins bewiesen, dass sie die Gefahr von Gegenschlägen auch auf ihrem eigenen Territorium ernst nehmen sollten. 134 Su-34-Bomber besitzt Russland laut dem Flight Global-Luftwaffenindex; mehrere Dutzend davon sollen laut Forbes in Woronesch-Malschewo parken – vornehmlich unter freiem Himmel; sie böten der Ukraine damit ein ideales Ziel.
Für Forbes besteht keine Alternative zum Einsatz der ATACMS – lediglich dieses Waffensystem würde die Gefahr der Gleitbomben-Einsätze an der Wurzel packen. Die zweitbeste Möglichkeit liegt nach Forbes-Autor David Axe im verstärkten Einsatz der mobilen Patriot-Einheiten gegen anfliegende Gleitbomber – ihm zufolge keine gute Idee: mangels Masse. „Die Ukraine besitzt derzeit nur drei solche Systeme – zwei aus Deutschland und eines aus den USA. Sie hält jedoch sieben für das absolute Minimum und strebt einen Ausbau auf 25 Systeme an“, schreibt aktuell die Neue Zürcher Zeitung. Eine schütze Kiew, berichtet Forbes. Andere scheinen um Odessa und Charkiw in Stellung gegangen zu sein. „Zwei weitere Batterien, die Deutschland und die USA zugesagt, aber noch nicht geliefert haben, könnten Dnipro und die Großstadt Krywyj Rih abschirmen“, mutmaßt Forbes.
Laut Angaben der NZZ hat nicht nur Deutschland im April die Lieferung eines weiteren Patriot-Systems auf den Weg gebracht: Italien schickt demnach mit dem Samp/T ein mit der Patriot in Feuerkraft und Reichweite vergleichbares Flugabwehrsystem. „Nun scheint es, dass mit weiteren ausländischen Hilfeleistungen die Minimalzahl von sieben Patriot-Feuereinheiten doch noch erreicht werden kann“, schlussfolgert die NZZ. Dennoch bezweifelt Forbes, dass die Ukrainer von den vermeintlichen neuralgischen Punkten aus Batterien an die nördliche Grenze verlegen werden, um den Weg zwischen Woronesch-Malschewo und Charkiw abzuriegeln. Auch die Blogger von Frontelligence Insight warnen vor einer Verlegung, weil das Gefechtsfeld zu gläsern sei, als dass die Stellungen gefahrlos gewechselt werden könnten; zwei Abschuss-Vorrichtungen soll die Ukraine bereits durch Drohnen-Angriffe eingebüßt haben.
F-16 im Anflug: Unter aktuellen Bedingungen keine Hilfe gegen Russlands Gleitbomber
Auch die angekündigte Verstärkung der ukrainischen Luftwaffe mit West-Maschinen scheint keine Alternative zu Angriffen mit ATACMS zu sein, schreibt Justin Bronk: Selbst wenn die lange erwarteten F-16, die schwedischen Gripen C und französischen Mirage 2000-5F von der Ukraine eingesetzt würden, gleiche das Abfangen der russischen Gleitbomber einer Herkulesaufgabe: In Frontnähe müssen ukrainische Piloten in sehr geringer Höhe anfliegen, um zu vermeiden, dass sie von der russischen Kurzstrecken- oder Langstrecken-Luftabwehr erfasst und eliminiert würden, analysiert der Wissenschaftler des britischen Royal United Services Institute for Defence and Security Studies (RUSI).
Die Luft-Luft-Raketen AIM-120C AMRAAM, die von den F-16 und dem Gripen C getragen werden, und die Kurzstrecken-IR/RF-Raketen MICA der Mirage 2000-5F würden ihm zufolge „Schwierigkeiten haben, die russischen Kampfflugzeuge in großen Höhen und mit hoher Geschwindigkeit 60 bis 70 Kilometer hinter den Linien zu erreichen“. Das sei dem Umstand geschuldet, dass die Raketen in so geringer Höhe in dichter Luft mit hohem Luftwiderstand starten und gegen die Schwerkraft steigen müssten, um die Höhe zu erreichen, in der sich ihre Ziele befänden. Das führt, Bronk zufolge, zu einer vergleichsweise geringen effektiven Reichweite. In großer Höhe, also dünnerer Luft und von einem überschallschnellen Träger abgefeuert, würde sich die Reichweite der Waffen erhöhen – gleichzeitig aber auch die Sichtbarkeit von deren Trägern für die russische Luftabwehr.
Justin Bronk schätzt den erfolgreichen ukrainischen Einsatz von Langstrecken-Drohnen gegen die russischen Luft- und Weltraumkräfte (VKS) um so höher ein, wie er schreibt: „Kiew scheint eine klare Strategie zu verfolgen, die VKS entweder zur Räumung ihrer Stützpunkte im Umkreis von mehreren hundert Kilometern um die ukrainische Grenze zu zwingen oder eine übermäßige Menge an Luftabwehrsystemen für deren Verteidigung einzusetzen.“ (Karsten Hinzmann)