Ein Lagebild zu Clankriminalität aus NRW zeigt: Viele Straftaten gehen auf Mehrfachstraftäter zurück. Zwei Bundesländer erheben eine Forderung. Eine Analyse.
Düsseldorf – Manchmal könnte man meinen, Nordrhein-Westfalens Sicherheitsbehörden kämpften gegen Windmühlen. Seit fast acht Jahren schreibt sich NRW-Innenminister Herbert Reul den Kampf gegen die sogenannte Clankriminalität auf die Fahnen – auch gegen Widerstände, das fängt schon bei Begrifflichkeiten an. Das Wort Clankriminalität stigmatisiere ganze Bevölkerungsgruppen und stelle Menschen unter Generalverdacht, bemängeln Kritiker seit Jahren. Reul selbst sagte mal im Interview mit dieser Redaktion: „Ich finde, du musst als Politiker Probleme immer auch klar benennen.“
Trotz vieler medienwirksamer Razzien gegen kriminelle Gruppierungen: Vor einem Jahr mussten die Behörden in ihrer Bilanz für 2023 einen Höchststand bei Clankriminalität vermelden. Insofern dürfte der Termin im Landeskriminalamt in Düsseldorf am Dienstagmittag ein Stück weit Konsolidierung für Reuls großes Thema sein. Denn der Minister konnte mit einer Erfolgsmeldung starten: Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der Straftaten im Clan-Kontext 2024 um 4,2 Prozent gesunken – und Massentumulte gibt es, anders als noch vor ein paar Jahren, nur noch sehr selten. Allerdings gibt es ein großes Aber – und ein altes Problem, das den Sicherheitsbehörden Sorge bereitet.
Clankriminalität: Polizei zieht bei Ermittlungen oft „den Kürzeren“
Der Rückgang bei den Straftaten hängt wenig mit Fahndungserfolgen zusammen, und lasse sich „schnell erklären“, so Reul: Wegen der teilweisen Cannabislegalisierung 2024 fielen zahlreiche Vorfälle, die früher noch Straftaten gewesen wären, aus der Statistik. Insgesamt 6700 Straftaten von Clankriminellen hat die Polizei im vergangenen Jahr erfasst. Gut ein Drittel davon waren Rohheitsdelikte, oft ging es um Körperverletzungen und Bedrohungen. Einen anderen großen Block machen mit 1086 Delikten Finanzstraftaten aus – also Betrug, Fälschungen oder auch Geldwäsche.
Von 82 Verfahren wegen Organisierter Kriminalität waren 2024 sechs dem Clan-Milieu zuzuordnen. „Das ist durchaus viel“, sagte Achim Schmitz, Leiter der LKA-Abteilung 1, die sich vornehmlich mit struktureller Kriminalität befasst. Ans mutmaßlich illegal erwirtschaftete Vermögen der Clans zu kommen, sei der wichtigste Hebel, das predigt Minister Reul seit Jahren. Die Summe, die die Polizei letztes Jahr an Vermögenswerten sichern konnte, mutet indes vergleichsweise gering an: 1,7 Millionen Euro haben die Behörden eingezogen, ein Großteil stammt aus einem wahrscheinlich illegalen Immobiliendeal in Essen. Der könnte der Geldwäsche gedient haben.
Derweil fahren führende Köpfe krimineller Banden mit teuren Sportwagen durch die Innenstädte, leben in schicken Villen – haben offiziell aber keine Einkünfte. Bislang haben die Behörden in solchen Fällen kaum Handhabe – sie ziehen „den Kürzeren“, wie es NRW-Finanzminister Marcus Optendrenk (CDU) erst kürzlich formulierte. Nicht selten muss beschlagnahmtes Vermögen an die Gruppierungen zurückgegeben werden: Wenn nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, dass Gelder, Immobilien oder andere Werte auf kriminellen Wegen erworben wurden.
Der Begriff Clankriminalität
► Wenn die Rede von kriminellen Clans ist, sind in Deutschland oft kriminelle Mitglieder von Großfamilien mit kurdisch-libanesischen Wurzeln gemeint. Die allermeisten Menschen aus diesen Familien sind nicht kriminell. In einigen Subclans aber kommt es immer wieder zu kriminellen Handlungen.
► Viele gehören den sogenannten Mhallami an, einer arabischstämmigen Volksgruppe. Ihre Vorfahren wurden nach dem Ersten Weltkrieg aus der Türkei vertrieben, kamen dann in den Libanon. Als dort Bürgerkrieg ausbrach (1975 bis 1990), flohen viele der Familien nach Deutschland.
► Wissenschaftler wie Mahmoud Jaraba sehen den Begriff „Clan“ in dem Zusammenhang kritisch. Manche Beobachter warnen vor einer Stigmatisierung ganzer Bevölkerungsgruppen. Jaraba sagt: „Es hilft nicht, das Problem zu lösen, wenn wir über Begrifflichkeiten streiten.“ Wichtig sei, den Begriff differenziert zu verwenden und nicht auf eine ganze Großfamilie zu beziehen.
Das will NRW nun gemeinsam mit dem Bundesland Sachsen ändern und de facto eine Beweislastumkehr erwirken. Heißt: Ein Verdächtiger muss dann darlegen, wie er ohne Job an Häuser oder teure Autos kommen konnte. „Wir brauchen so ein Instrument“, so Reul, der einen Entwurf dazu gemeinsam mit seinen Minister-Kollegen aus NRW und Sachsen der Bundesregierung vorlegen will. „Wenn das in Berlin beschlossen wird, kommen wir kilometerweit voran.“
Für Kritik sorgt unterdessen ein anderes, noch recht neues Instrument der Polizei: die sogenannte namensbasierte Recherche. Die Ermittler verknüpfen in ihrem Lagebild die Namen von Tatverdächtigen mit als relevant definierten Familiennamen. Kritiker sagen: Wegen der Taten Einzelner gerieten ganze Familien in Misskredit. „Ich weiß, dass nicht alle Menschen auf dieser Erde Freunde dieses Systems sind“, räumte Reul ein. „Das Thema Stigmatisierung ist nicht wegzudiskutieren und ich weiß, dass das ein Problem ist.“ Er kenne aber aktuell kein anderes System, mit dem kriminelle Strukturen im Clan-Milieu aufgedeckt werden könnten. „Wenn wir das nicht machen, können wir nicht anfangen, zu arbeiten.“
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Insgesamt 118 Namen von Clans hat die Polizei auf ihrer Liste, auffällig sind vor allem 190 Mehrfachstraftatverdächtige, gegen die wegen fünf oder mehr Taten in einem Jahr ermittelt wird. „Ein Viertel der Straftaten geht auf deren Deckel. Es sind wenige, die besonders viele große Probleme machen“, so Reul. Vier Namen sind inzwischen von der Liste gestrichen worden, weil es keine Täter mehr mit den entsprechenden Namen gab – dafür seien vier neue Namen dazugekommen. „Das ist ein atmendes System“, sagte der Minister.
Erkenntnisse dazu, dass es inzwischen zur Bildung krimineller Strukturen bei Familienclans aus Syrien und Afghanistan gibt, habe man aktuell nicht, sagte LKA-Ermittler Achim Schmitz. „Aber wir müssen Tatverdächtige genau unter die Lupe nehmen, um nicht dieselben Fehler wie in den 80er-Jahren zu machen und Zusammenhänge erneut verschlafen.“ Experten warnen schon länger vor Konflikten zwischen Gruppierungen aus Syrien und etablierten türkisch-arabischstämmigen Clans, die künftig auf den Straßen ausgefochten werden könnten.
Der Kampf gegen jahrzehntelang gewachsene Strukturen erfordere Geduld, betonte Reul: „Das geht nicht hopplahopp. Alles andere sind Quatschereien.“ Symptomatisch dafür: Achim Schmitz, der in den letzten Jahren maßgeblich an den Ermittlungen beteiligt war, stellte zum letzten Mal das Lagebild Clankriminalität vor. Er geht in den Ruhestand. (Quellen: Pressekonferenz mit Reul und Schmitz, eigene Recherchen)