Clan-Eskalationen „schwerer zu kontrollieren“: Experte warnt vor neuem Phänomen

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Ein Wissenschaftler beobachtet eine Veränderung im Clan-Milieu – und warnt nach einer Eskalation in Heiligenhaus vor Racheakten.

Die Hoffnung war da: weniger Massenvorfälle, keine Gewalt auf offener Straße mehr. Vor ein paar Monaten gab man sich noch zuversichtlich bei den Sicherheitsbehörden in NRW. Doch dann: Erneut eine Massenschlägerei in Heiligenhaus – zwischen Düsseldorf und Essen – am vergangenen Wochenende. Bis zu 100 Menschen waren beteiligt.

Offenbar war ein Streit zwischen Großfamilien eskaliert. Beide Familien seien dem sogenannten Clan-Milieu zuzuordnen, heißt es bei der Polizei. Über die Nationalität der Beteiligten wurde zunächst nichts bekannt. Mehrere von ihnen wurden teils schwer verletzt, ein 38-Jähriger erlitt lebensgefährliche Schnittwunden. Die Polizei setzte einen Polizeihubschrauber ein, um die Lage im Blick halten zu können.

Massenschlägerei in Heiligenhaus: Clan-Phänomen in vielen deutschen Städten

Ein gefundenes Fressen für die Opposition im NRW-Landtag. „Die jüngsten Ereignisse in Heiligenhaus sind ein alarmierendes Zeichen dafür, dass die Kriminalität und die Gewaltbereitschaft von Familienclans in Nordrhein-Westfalen weiterhin nicht unter Kontrolle gebracht werden“, sagte Elisabeth Müller-Witt, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion. Innenminister Herbert Reul (CDU) trage die Verantwortung dafür, „dass es in nunmehr acht Jahren nicht gelungen ist, diese kriminellen Strukturen nachhaltig zu bekämpfen und für Sicherheit zu sorgen.“

In der Tat propagiert Reul seit Jahren eine Null-Toleranz-Politik gegen die sogenannten kriminellen Clans. Wie schon die Massenschlägereien im Februar 2024 in Essen oder im Sommer 2023 in Castrop-Rauxel scheinen solche Gewaltvorfälle unberechenbar zu sein. Damals war die Polizei von den Eskalationen im Ruhrgebiet völlig überrascht worden.

Der Begriff Clankriminalität

► Wenn die Rede von kriminellen Clans ist, sind in Deutschland oft kriminelle Mitglieder von Großfamilien mit kurdisch-libanesischen Wurzeln gemeint. Die allermeisten Menschen aus diesen Familien sind nicht kriminell. In einigen Subclans aber kommt es immer wieder zu kriminellen Handlungen.

► Viele gehören den sogenannten Mhallami an, einer arabischstämmigen Volksgruppe. Ihre Vorfahren wurden nach dem Ersten Weltkrieg aus der Türkei vertrieben, kamen dann in den Libanon. Als dort Bürgerkrieg ausbrach (1975 bis 1990), flohen viele der Familien nach Deutschland.

► Wissenschaftler wie Mahmoud Jaraba sehen den Begriff „Clan“ in dem Zusammenhang kritisch. Manche Beobachter warnen vor einer Stigmatisierung ganzer Bevölkerungsgruppen. Jaraba sagt: „Es hilft nicht, das Problem zu lösen, wenn wir über Begrifflichkeiten streiten.“ Wichtig sei, den Begriff differenziert zu verwenden und nicht auf eine ganze Großfamilie zu beziehen.

Dahinter steckt ein Phänomen, das in immer mehr deutschen Städten zu beobachten ist, sagt Mahmoud Jaraba. Der Politikwissenschaftler forscht am Forschungszentrum für Islam und Recht in Europa (FAU) in Erlangen zu arabischen, türkischen und kurdischen Großfamilien, er ist ein Kenner der Materie. „Das eigentliche Problem ist, dass die traditionellen Mechanismen zur Konfliktlösung – also die Vermittlung durch Älteste oder angesehene Familienmitglieder – immer schlechter funktionieren“, sagt er im Gespräch mit Münchner Merkur von IPPEN.MEDIA.

Clan-Auseinandersetzung: „Jüngere Generation hat wenig Respekt gegenüber traditionellen Autoritäten“

„Gerade die jüngeren Generationen zeigen wenig Respekt gegenüber traditionellen Autoritäten, was dazu führt, dass Konflikte häufiger eskalieren und sich schwerer kontrollieren lassen als noch vor einigen Jahren. Diese Entwicklung beobachten wir mittlerweile recht deutlich in vielen Städten“, so der Experte.

Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba beim Kongress zur Bekämpfung von Clankriminalität im NRW-Innenministerium in Düsseldorf
Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba. © Peter Sieben

Der Vorfall in Heiligenhaus unterscheide sich allerdings von der Auseinandersetzung im Juli 2023 in Castrop-Rauxel. Damals ging es auch um einen fundamentalen politischen Streit, der sich schon Tage vorher in den sozialen Medien angekündigt hatte. „Dieses Mal handelt es sich um einen klassischen familiären Konflikt innerhalb eines erweiterten Verwandtschaftsnetzwerks, ohne politischen Hintergrund, soweit wir das derzeit beurteilen können“, sagt Jaraba.

„Solche Konflikte beobachten wir seit Jahren in unterschiedlichen Varianten. Sie entstehen meist durch interne Spannungen, persönliche Streitigkeiten oder Auseinandersetzungen um Status, Ehre und Loyalitäten innerhalb der Familien.“ Typisch sei, dass solche Auseinandersetzungen schnell größere Dimensionen annehmen können, weil zahlreiche Angehörige mobilisiert würden.

Clan-Konflikt noch nicht beendet: „Wahrscheinlich Racheakte an anderen Orten“

Jaraba warnt: „Wir müssen auch davon ausgehen, dass der Konflikt noch nicht beendet ist. Da es verletzte Personen gibt und bislang keine Sulha, also Versöhnung, erreicht wurde, ist es wahrscheinlich, dass es zu weiteren Eskalationen oder Racheakten kommt – möglicherweise auch an anderen Orten.“

Anders als bei vorherigen Schlägereien habe es diesmal keine auffälligen Hinweise in sozialen Medien gegeben, die auf eine geplante Eskalation hingedeutet hätten, so der Wissenschaftler. Eine unberechenbare Eskalation also: „Es wirkt wie eine kurzfristige, spontane Mobilisierung innerhalb der betroffenen Gruppen.“

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