„Absolut unverantwortlich“: Mann bekommt keine Hilfe vom Notruf – später muss ihm das Bein amputiert werden

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Hilfe in Notfällen verspricht die Nummer 112. Im Fall eines 75-Jährigen aus dem Landkreis lief es anders. © Patrick Seeger/dpa

Die Vorstellung ist beängstigend: Man ist schwer krank, fühlt sich in Not – aber weder vom Ärztlichen Bereitschaftsdienst noch unter dem Notruf 112 bekommt man Hilfe. Genau das ist einem heute 75-Jährigen aus dem südlichen Landkreis passiert, und zwar mit schwerwiegenden Folgen. Jetzt erhebt er schwere Vorwürfe.

Bad Tölz-Wolfratshausen – Die Geschehnisse liegen mehr als drei Jahre zurück. Doch erst jetzt ist ein heute 75-Jähriger aus dem südlichen Landkreis gesundheitlich so weit, darüber zu sprechen. Seine Vorwürfe wiegen schwer. Wie vonseiten der Integrierten Leitstelle Oberland und des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes mit ihm umgegangen wurde, das sei „absolut fahrlässig und unverantwortlich“, sagt er.

Weil ihm die Distanz zu weit ist: Notfallmediziner lehnt ab, zu kommen

In einer Nacht im Mai 2021 habe er unter heftigem Schüttelfrost und Schmerzen gelitten. Seine Frau wählte um etwa 4 Uhr morgens zunächst die 116 117, die Nummer des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes. „Aber der Notfallmediziner hat es schlichtweg abgelehnt zu kommen“, sagt der 75-Jährige. „Originalton: Das ist über 40 Kilometer entfernt. Da komme ich nicht.“ Die Ehefrau habe daraufhin die 112 angerufen. Hier sei sie allerdings erneut an den Bereitschaftsdienst verwiesen worden – der weiterhin nicht kam.

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Einige Tage später ging es dem Mann wieder besonders schlecht. Diesmal rief seine Frau den Hausarzt an. Der habe einen Krankenwagen geschickt, der ihn in die Klinik nach Bad Tölz fuhr. „Da war ich schon nicht mehr bei Bewusstsein.“ Letztlich habe sich herausgestellt, dass er unter einer Blutvergiftung litt. Diese Sepsis habe, so erklärt der 75-Jährige, einen Schlaganfall ausgelöst. „Im Krankenhaus sagten die Ärzte, dass ich tot gewesen wäre, wenn ich zehn Minuten später angekommen wäre. Das war eine todernste Situation.“ Aber auch so kam es schlimm: Der Mann lag ein halbes Jahr im Wachkoma, und sein Bein wurde amputiert. „Ich lerne gerade, mit einer Prothese wieder zu gehen“, sagt er heute.

Wenn ich zehn Minuten später im Krankenhaus angekommen wäre, wäre ich tot gewesen.

Mit den damaligen Ereignissen hat er freilich nicht abgeschlossen. „Ich habe oft gelesen, dass man nicht zögern soll, die 112 anzurufen“, sagt er. Als seine Frau es aber getan habe, habe er keine Hilfe erhalten.

BRK erklärt sich: Symptome wie Schüttelfrost sind nicht per se ein Notfall

Betrieben wird die Integrierte Leitstelle von der Landesgeschäftsstelle des BRK. Mit den Schilderungen konfrontiert, erklärt BRK-Sprecher Sohrab Taheri-Sohi: „Der Fall zeigt auf tragische Weise, wie schwierig es für Bürgerinnen und Bürger sein kann, eine angemessene und der individuellen Situation entsprechende Gesundheitsversorgung zu erhalten“. Die Aufgabe der Disponenten in der Integrierten Leitstelle sei es, „am Telefon in kürzester Zeit einen Rückschluss auf eine mögliche Notfallsituation zu ziehen“. Anhand der geschilderten Symptomatik sei es der richtige Weg gewesen, sich zunächst an den Ärztlichen Bereitschaftsdienst zu wenden. „Symptome wie Schüttelfrost, erträgliche Schmerzen oder sonstige Erkältungssymptome sind per se keine Notfallindikation.“

Taheri-Soris Resümee: „Nach den von Ihnen wiedergegebenen Darstellungen und auch unserer Dokumentation können wir ein Fehlverhalten der Integrierten Leitstelle ausschließen. Das ändert aber nichts daran, dass uns Ihre Darstellungen und die Folgen, mit denen der Herr nun leben muss, sehr betroffen machen.“

KVB: Abläufe nach so langer Zeit nicht mehr nachvollziehbar

Stefan Berger, Sprecher der für den Ärztlichen Bereitschaftsdienst zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung Bayern (KVB) erklärt, dass die genaue Abfolge der Ereignisse nach so langer Zeit nicht mehr nachvollziehbar sei. Denn die Aufzeichnungen der Anrufe würden nach einer gewissen Zeit aus datenschutzrechtlichen Gründen anonymisiert. Eine Überlastung des Bereitschaftsdienstes zum fraglichen Zeitpunkt erklärt Berger für äußerst unwahrscheinlich. „Besonders in den frühen Morgenstunden sind die Anrufzahlen gering.“ So sei es auch an jenem Datum gewesen.

Wenn ein Patient oder Angehöriger die Nummer des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes wählt, führe prinzipiell eine medizinische Fachkraft eine Ersteinschätzung durch. Dabei unterstütze ein strukturierter Frage-Antwort-Prozess die Fachkraft dabei, die Dringlichkeit des Falls „korrekt und vor allem patientensicher einzuschätzen“.

Betroffener: „Ich konnte mich nicht mehr bewegen“

Sowohl Taheri-Sohi als auch Berger sehen es als unklar an, warum der Patient zwischen dem ersten Notruf und der Einlieferung ins Krankenhaus mehrere Tage später nicht erneut den Rettungsdienst alarmierte beziehungsweise eine Notaufnahme oder seinen Hausarzt aufsuchte. „Ich wusste, die 112 würde mir keinen Krankenwagen schicken“, antwortet der 75-Jährige. „Zu meinem Hausarzt konnte ich nicht, weil ich mich nicht mehr bewegen konnte.“

Unabhängig davon betont KVR-Sprecher Berger: „Wir bedauern zutiefst, dass der Patient solche schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen erlitten hat, und hoffen, dass er sich mittlerweile bestmöglich von dieser schweren Erkrankung erholen konnte.“ (ast)

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