Gastkommentar von Gabor Steingart - Um den großen Krieg mit Putin zu verhindern, hilft nur eine kühle Doppelstrategie
Wer Russlandpolitik sagt, will betrügen. Denn weder der amtierende noch der künftige Kanzler besitzen eine. Es gibt die handelsübliche harte Rhetorik (Merz: „Angriffskrieg gegen Europa“) und halbherzige Waffenlieferungen an die Ukraine gibt es auch. Das war‘s.
Das Ergebnis spricht Bände: Der Angreifer Putin ist obenauf, die russische Armee hat sich in der Ost-Ukraine festgesetzt, Trump klingelt im Kreml durch und die europäischen Staats- und Regierungschefs stehen grummelnd an der Seitenlinie. Es gibt viele Wege, die europäische Souveränität zu verlieren, das demonstrative Beiseitestehen ist der sicherste.

„Putins Krieg“: Deutschland ist nicht so unschuldig, wie es tut
Rückblende: Wenn Olaf Scholz, Lars Klingbeil und Friedrich Merz von „Putins Krieg“ sprechen, dann wollen sie sich und Merkel einen Persilschein ausstellen, auf dem steht: Putin war‘s. Wir sind unschuldig.
Wahr aber ist: Deutschland ist nicht so unschuldig, wie es tut. Putin wurde zum Losschlagen regelrecht ermuntert und zwar durch eine Politik der Unentschlossenheit. Wobei es diese Unentschlossenheit in zwei Varianten gab:
Die sozialdemokratische Variante der Unentschlossenheit bestand darin, dass man sich zwar auf die Entspannungspolitik von Willy Brandt berief, aber die zwei wichtigsten Zutaten dieser Politik missachtet hat: verbindliche Verträge und knallharte Aufrüstung.
Brandt und Scheel, später Schmidt und Genscher, waren Dialektiker, die die Kunst von Geben und Nehmen beherrschten. Sie vertrauten nicht auf die vermeintliche russische Friedfertigkeit, sondern zwangen Moskau in ein umfangreiches Regelwerk.
1968 wurde der Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet. 1972 folgte der SALT-I-Vertrag, 1973 das Abkommen über die Vorbeugung von Atomkriegen, zwischen 1970 und 1973 die verschiedenen Ostverträge, 1975 die Konferenz zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und zum krönenden Abschluss folgte schließlich 1979 der SALT-II-Vertrag zur Begrenzung nuklearer Sprengsätze.
Verteidigungsausgaben waren schon mal höher
Zugleich betrug der Anteil der Verteidigungsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt in den Brandt- und Schmidt-Jahren nie weniger als drei Prozent, also fast das Doppelte der Merkel/Scholz-Jahre. Die Entspannungspolitik war nicht so entspannt, wie sie aussah. Sie bestand aus Zuckerbrot und Peitsche. Sticks and Carrots, wie die Amerikaner sagen.
Warum das wichtig ist: Die sozial-liberale Entspannungspolitik muss man sich wie einen großen Sicherungskasten vorstellen. Das Erdgas-Röhren-Geschäft und die Nato-Nachrüstung gehörten gedanklich zusammen. Erst nach der Wiedervereinigung wurden die Sicherungen rausgeschraubt.
Der Handel – vor allem mit Öl und Gas – lief weiter, jetzt ohne militärische oder politische Verabredungen. Putins Lernerfahrung war die: Er bekam Handel auch ohne Wandel.
Die konservative Unentschlossenheit stand in ihrer Wirkung der sozialdemokratischen in nichts nach. Sie bestand darin, dass man zwar die Osterweiterung der Nato vorantrieb und damit in Moskau Gefühle der Unterlegenheit und der Bedrohung befeuerte. Zugleich aber ließ man bei diesem Heranrücken an Moskau überall weiße Flecken. Genau auf einem dieser weißen Flecken schlug Putin später zu.
Die ukrainische Halbinsel Krim bekam er geschenkt, als Gruß aus der Küche. Derart in seinem Appetit stimuliert, stürzte er sich auf die übrige Ukraine. Niemand weiß, ob es sich nur um eine Secondo Piatto, also einen Zwischengang handelt.
Deutschlands Konservative waren nie klar
Hätte man die Ukraine unverzüglich dem atomaren Schutzschirm der Nato unterstellt (und am besten Finnland, Schweden und die Republik Moldau gleich mit), wäre das eine klare Durchsage gewesen: Bis hierher und nicht weiter.
Aber Deutschlands Konservative waren nie klar. Sie waren vernuschelt. Sie arbeiteten – siehe Merkel in Minsk – mit einem Sack voller Karotten und ließen den Stock zu Hause. Sie waren unter Kohl und Merkel sozialdemokratischer als Brandt und Schmidt, wobei Kohl immerhin die DDR mit nach Hause brachte. Merkel bekam nichts.
Auch als Putin derart ermuntert in Richtung Kiew losmarschierte, griff man nicht zum Stock, sondern zum Stöckchen. Mit Wirtschaftssanktionen – an die sich die Nato-Partner Ungarn und Türkei genauso wenig hielten wie Chinesen und Inder – glaubte man, Putin in die Knie zwingen zu können. Doch der hatte im Inneren auf Kriegswirtschaft umgeschaltet und im Export die Lieferketten neu geordnet.
Die „weitgehende Isolierung Russlands“ hat nicht gegeben
Die „weitgehende Isolierung Russlands: diplomatisch, politisch und finanziell“, von der Merz damals im Bundestag sprach, hat es im wahren Leben der Völker nicht gegeben. Nicht mal vor den Vereinten Nationen in New York reichte es für eine Verurteilung. Der Westen war als Superman gestartet und als Benjamin Blümchen auf dem Roten Platz gelandet.
Und nun? Der neue Kanzler und sein Außenminister müssen von der Rhetorik zur Realpolitik übergehen. Die in Moralin getränkte Ineffektivität des Teams Scholz/Baerbock sollte man nicht duplizieren. Europa braucht mehr als einen Waffenstillstand in der Ostukraine.

Die Neuauflage einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa wäre eine gute Idee. Auf dass man hinterher sagen kann: Die kostspielige Aufrüstung in Berlin hat den großen europäischen Krieg verhindert – und nicht vorbereitet.
Doppelstrategie gegen Putin
Fazit: Den Machtappetit des Kremls zügeln und seine Sicherheitsinteressen respektieren sind die zwei Seiten derselben Medaille. Oder wie der britische Philosoph Bertrand Russell zu sagen pflegte:
„Die Weltgeschichte ist auch die Summe dessen, was vermeidbar gewesen wäre.“