Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts, zieht im Interview mit der "FAZ" eine alarmierende Bilanz der deutschen Wirtschaft:
- Die Wirtschaftsleistung liege auf dem Niveau von 2019.
- Die Wirtschaft stagniere seit sechs Jahren, so lange wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg.
- Die Regierung tue zu wenig, um das zu ändern, und verschlechtere die Lage mit einigen Reformen sogar.
- Fuest: „Die Schwierigkeiten sind größer, als viele anerkennen wollen.“
Fuests Analyse beschreibt vier Hauptprobleme:
Problem 1: Immer weniger Produktivität
- Zwar steigt die Arbeitslosigkeit kaum, doch die Arbeitsplätze verschieben sich: von der Industrie in Richtung Pflege und Verwaltung.
- Ein Bereich, in dem Deutschland mit hoher Produktivität oft Weltmarktführer war, vergeht. Ihn ersetzt aber kein neuer, hoch produktiver Bereich.
- Zu oft wandern Berufe in einen Bereich mit geringer Produktivität, der über Steuern und Abgaben finanziert wird.
- Pflege und Verwaltung sind wichtig. Aber sie leben vom Wohlstand einer Gesellschaft. Sie erzeugen ihn nicht.
- Fuest: „Das ist auf Dauer nicht durchzuhalten.“
Problem 2: Zu viel Staat, zu wenig Zukunft
- Fuest kritisiert, die Bundesregierung kümmere sich zu stark um bestehende Industrien und zu wenig um Wachstumsfelder.
- Autogipfel im Kanzleramt seien Symbolpolitik. Die Autoindustrie bleibe für Deutschland wichtig.
- Wachstum entstehe aber aus neuen Ideen wie Digitalisierung und künstlicher Intelligenz.
"Der Marktwert aller deutschen Stahlunternehmen zusammen liegt aktuell bei rund fünf Milliarden Euro. Das vermutlich erfolgreichste deutsche Start-up der vergangenen Jahre, der Softwareentwickler Celonis, kommt mit einem Marktwert von 13 Milliarden Euro allein auf zweieinhalbmal so viel. Ich würde jetzt also eher keinen Stahlgipfel veranstalten, um dort von fünf auf sechs Milliarden Euro zu kommen. Was wir nach meiner Meinung dagegen dringend brauchen, ist ein Gipfel für Start-ups und Innovation, nicht für das Gestern, sondern für das Morgen." Clemens Fuest
Problem 3: Zu viel Angst
Deutschland erhält alte Industrien am Leben, weil an ihnen viele Arbeitsplätze hängen. Fuest hält diese Sorgen für übertrieben:
- Angestellte fänden andere Jobs. Die Arbeitslosigkeit sei niedrig und bliebe das wegen der alternden Gesellschaft auch. "Jeder in Deutschland wird gebraucht."
- Zwar müssten Angestellte, die von der Industrie in andere Bereiche wechseln, oft mit weniger Gehalt auskommen, sagt Fuest: "Das ist bitter, gehört aber zu dem Strukturwandel, den wir nicht aufhalten können."
Botschaft: Niemand braucht hoffen, aus der Zeit gefallene Jobs sichern zu können. Aber niemand braucht fürchten, deswegen zu verarmen.
Problem 4: Zu viel Fokus auf Massenmärkte
- Den Versuch, in Deutschland massenhaft Wärmepumpen oder E-Autos zu bauen, hält Fuest für „Wunschdenken“.
- Schwellenländer könnten dies immer günstiger.
- Deutschland müsse sich auf Nischen konzentrieren, in denen es stark sei – wie im Anlagenbau oder in spezialisierten Industrien.
- Schon in den vergangenen Jahrzehnten stützten "Hidden Champions", also Weltmarktführer in kleinen Nischen, die Wirtschaft der Bundesrepublik.
Vier Lösungen für Deutschland
Fuest fordert:
- Klare „Strategie für Innovation“ statt einer Strategie des Erhalts.
- Schulden tatsächlich für Infrastruktur-Investitionen verwenden statt für Haushaltskosmetik: „Man kann sich nicht 500 Milliarden Euro für Investitionen leihen, um dann Haushaltslöcher zu stopfen.“ Dies geschehe aber viel zu häufig.
- Weniger Gießkannenprogramme.
- Einschnitte bei der Rente statt neuer Leistungen.
Bewertung der Regierung
Grundsätzlich geht die Regierung laut Fuest in die richtige Richtung. Sie setze viele Dinge bislang aber zaghaft oder unvollständig um.
Positiv:
- Sicherheits- und Verteidigungsinvestitionen: „Ein notwendiger Schritt, der auf Europa abstrahlt.“
- Wachstum als Regierungsziel: grundsätzlich richtig.
- Förderung von Forschung und beschleunigte Abschreibungen: sinnvoll, aber zu schwach ausgeprägt.
Negativ:
- Bürgergeld: Richtiger Ansatz, aber ohne Reform der Anrechnungsregeln und Koordinierung mit Wohngeld unvollständig.
- Autoindustrie: Offenbare Uneinigkeit der Regierung verhindert klare Regeln. "Das ist schlecht."
- Steuerfreie Überstunden: Laut Fuest reine Steuervermeidung, kein Beitrag zur Mehrarbeit.
- Rentenpolitik: „Sehr enttäuschend“ – neue Leistungen wie Mütterrente und Frühstartrente verschärfen die Belastung. Dringend nötige Einschnitte bleiben aus. Die Zehn-Euro-Frühstartrente im Monat für Kinder und Jugendliche seien Symbolpolitik mit „Gießkannenprinzip“ und überflüssiger Bürokratie. "Die meisten dieser Jugendlichen brauchen die 10 Euro nicht."
- Sondervermögen: Zweckentfremdung von Mitteln, die für Investitionen gedacht waren – ein schwerer Fehler.