Warum in Deutschland nur wenige Menschen assistierten Suizid wollen

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Etwa 1000 Freitodbegleitungen gab es im vergangenen Jahr. Eine Ethikerin erklärt, woher die Skepsis kommt. Und, ob sie bei psychisch kranken Menschen berechtigt ist.

Hinweis: Dieser Artikel thematisiert Suizid und psychische Krankheiten.

Die Mutter eines Bekannten oder der eigene Onkel: Suizid gehört oft zu unserer Lebensrealität, auch wenn wir selten darüber sprechen. Seit dem Urteil des Bundesgerichtshofs am 26. Februar 2020 gibt es in Deutschland ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Ärzte dürfen demnach assistierten Suizid leisten, in dem sie dem sterbewilligen Patienten ein Medikament bereitstellen, das die Person selbstständig einnimmt.

Viel mehr Menschen begehen selbst Suizid, als es Fälle von assistiertem Suizid gibt

Nach vier Jahren zieht die Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) Bilanz. 419 ihrer Mitglieder haben 2023 assistierte Suizid in Anspruch genommen, wie der Verein am Dienstag (27. Februar) mitteilte. Das sind mehr, als im Jahr zuvor (229), sowie 2021 (120). Wer die Zahl der Freitodbegleitungen von anderen Vereinen und einzelnen Ärzten nach Schätzungen der DGHS hinzuzählt, kommt auf etwa 1000 Personen.

Verglichen zu der Gesamtzahl aller Sterbefälle in Deutschland, die bei etwa einer Million Menschen liegt, ist der Anteil gering. Viel mehr Menschen wählten ihren eigenen Weg, Suizid zu begehen, der oft viel grausamer ist und Mitmenschen stärker belastet. Insgesamt nahmen sich im vergangenen Jahr etwa 10.000 Menschen das Leben.

Warum denkt die deutsche Gesellschaft so negativ über selbstbestimmtes Sterben?

In Zukunft rechnet Robert Roßbruch, Präsident der DGHS, nicht mit einer erheblichen Zunahme an Freitodbegleitungen. „Wir haben in Deutschland eine Kultur, in der wir offensichtlich immer noch nicht genügend über unsere Endlichkeit nachdenken. Das hat möglicherweise etwas mit unseren Zivilgesellschaften zu tun, wo wir bestimmte Erfolge erreichen müssen und das Thema Sterben verdrängen“, sagt Roßbuch in einer Pressekonferenz auf Nachfrage von BuzzFeed News Deutschland, ein Portal von Ippen.Media.

Zwei Hände.
Menschen zwischen 80 und 89 entschieden sich 2023 am häufigsten für eine Freitodbegleitung. (Symbolbild) © IMAGO/photothek

Nach Ansicht der Medizinethikerin Claudia Paganini hat unser negatives Bild auf Suizid etwas mit christlichen Traditionen zu tun. „Weil die Kirche ein Machtinstrument war, stigmatisierte sie auch den Suizid als Sünde“, sagt sie mit Blick auf die Geschichte. Paganini meint damit, dass christliche Institutionen über Leben und Tod ihrer Gläubiger die Kontrolle haben wollten. Heute hat sich vieles verändert, oder nicht? Katholische Pflegeheime würden Freitodbegleitern in der Regel nicht erlauben, ihre Arbeit durchzuführen, wie es vom DGHS heißt. In evangelischen, sowie privaten Heimen habe der Verein die Erfahrung noch nicht gemacht.

Dies ist ein Artikel von BuzzFeed News Deutschland. Wir sind ein Teil des IPPEN.MEDIA-Netzwerkes. Hier gibt es alle Beiträge von BuzzFeed News Deutschland.

Ethikerin plädiert dafür, dass psychische Krankheiten assistierten Suizid nicht ausschließen

Noch immer gibt es eine große Skepsis in Bezug auf assistierten Suizid. Besonders, wenn es darum geht, psychisch kranken Menschen beim Sterben zu helfen. Bei Depressionen und Schizophrenie gehört der Wunsch zu sterben oftmals zum Krankheitsbild dazu. Geht es ihnen psychisch besser, kann sich die Meinung wieder verändern.

Trotzdem schließt Paganini psychische Krankheiten nicht als legitimen Grund aus, sich das Leben nehmen zu wollen. „Wenn Menschen schwere psychische Krankheiten über Jahre hinweg haben und therapeutisch alles probiert haben, ist es würdiger, den assistierten Suizid zu erlauben, als in Kauf zu nehmen, dass sie sich selbst eine Suizidmethode suchen“, sagt sie BuzzFeed News Deutschland. Mit einer Bedingung: „Vor der Entscheidung muss eine gewisse Zeit verstreichen. Wenn ich einen Sterbewunsch äußere und ich war zwei dreimal bei der Psychotherapie, dann habe ich nicht alle möglichen Anstrengungen unternommen.“

Das deutsche Gesetz zum selbstbestimmten Sterben schließt psychische Erkrankungen als Begründung eigentlich nicht aus. Zwei aktuelle Gerichtsprozesse könnten es psychisch kranken Menschen in Zukunft jedoch schwer machen, assistierten Suizid in Anspruch zu nehmen: Der Neurologe und Psychiater Johann Spittler half einem Mann, der an Schizophrenie erkrankt war, beim Suizid. Er wurde am 1. Februar 2024 wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Staatsanwaltschaft und Verteidigung legten Revision ein. Der Arzt Christoph T. unterstützte eine depressive Frau beim Suizid. Auch er steht wegen Totschlag vor Gericht, die Verhandlungen laufen noch.

Wenn Menschen schwere psychische Krankheiten über Jahre hinweg haben und therapeutisch alles probiert haben, ist es würdiger, den assistierten Suizid zu erlauben, als in Kauf zu nehmen, dass sie sich selbst eine Suizidmethode suchen.

Organisation erlaubt psychisch kranken Menschen Freitodbegleitungen – „auch für sie gilt die Menschenwürde“

Die DGHS möchte daran festhalten, auch bei psychischen Erkrankungen in den Tod zu begleiten. „Selbstverständlich müssen psychisch erkrankte Menschen genauso wie somatisch erkrankte Menschen ein Recht auf Selbstbestimmung haben. Auch für sie gilt die Menschenwürde.“ Schon in der Erstberatung würden sich jedoch die meisten, die ein psychiatrisches Leiden als primären Grund angeben, gegen einen Antrag entscheiden. Unter den 419 Freitodbegleitungen im Jahr 2023 seien nur wenige Personen im einstelligen Bereich dabei gewesen. Wie viele genau, möchte Roßbruch nicht präzisieren.

Der Verein sichert sich damit ab, dass Freitodbegleiter Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht ohne ärztliches Attest helfen. „Wenn der Psychiater bestätigt und bescheinigt, dass trotz dieser psychiatrischen Diagnose die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit gegeben, ist genügend Sorgfalt an den Tag gelegt worden und kann die Freitodbegleitung stattfinden“, sagt Roßbruch. Der DGHS lehnte 2023 21 Anträge ab, die aufgrund von psychischen Erkrankungen gestellt wurden. Die Zahl der insgesamt abgelehnten Anträge liegt bei 34. Ob es nach dem zweiten Gerichtsurteil noch mehr werden könnten, bleibt abzuwarten.

Klar ist, dass die Prozesse dem selbstbestimmten Sterben weiter Steine in den Weg legen. Dabei könnte eine liberalere Sicht auf das Thema nicht nur Sterbewilligen helfen, ist sich Medizinethikerin Paganini sicher. „Wenn die Gesellschaft den Suizid normalisiert – ohne die Ernsthaftigkeit aus dem Thema zu nehmen – können Betroffene eher darüber sprechen und sich Hilfe holen.“

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