Gas, Geothermie – oder gar nichts? Was unser Energiesystem wirklich braucht

Die deutsche Energiewende setzt für die zukünftige Stromerzeugung auf den massiven Ausbau von Solarenergie und Windkraft. Die Produktion beider Technologien hängt stark vom Wetter ab. Stromspeicher wie Batterien oder Pumpspeicher können das ausgleichen, allerdings nur im Bereich von Stunden oder bestenfalls Tagen. Ergänzend kann in gleicher Weise auch eine flexible Steuerung des Stromverbrauchs die sichere Stromversorgung unterstützen. 

Deutsche Energiewende setzt auf Solarenergie und Windkraft 

Um jederzeit eine hohe Versorgungssicherheit zu gewährleisten – auch in der viel zitierten „kalten Dunkelflaute“ – braucht es aber auch langfristig flexibel wetterunabhängig einsatzbereite Kraftwerke, sogenannte Residuallastkraftwerke, wie sie im Rahmen der Kraftwerksstrategie geplant sind. Gasturbinen- oder Motorenkraftwerke auf Basis von Erdgas stehen dabei aktuell im Fokus. Um eine Reduktion der entstehenden CO2-Emissionen zu erreichen, braucht es mittelfristig allerdings eine Umstellung auf Wasserstoff oder eine Kombination mit Abscheidung und Speicherung des CO2(„Carbon Capture and Storage“, CCS). Auch Biomasse könnte einen Beitrag leisten.

Kann das Stromsystem also ohne Grundlastkraftwerke, zum Beispiel Kernkraftwerke, auskommen? Teile der Politik und der Wirtschaft bezweifeln das immer wieder und sehen sich beispielsweise durch den Blackout auf der iberischen Halbinsel Ende April bestätigt. Grundlastkraftwerke können weitgehend kontinuierlich und gleichmäßig Strom liefern – damit können sie das System stabilisieren. 

Sie sind allerdings nur dann wirtschaftlich, wenn sie mehr oder weniger durchgehend laufen. Dadurch stellt sich umgekehrt die Frage, ob treibhausgasneutrale Grundlastkraftwerke überhaupt mit einem zukünftigen System kompatibel wären, das stark auf die schwankende und dezentrale Einspeisung aus erneuerbaren Energien setzt.

Klimaneutrale Grundlastkraftwerke: Kernkraft oder Geothermie?

Mit dem Ziel eines klimaneutralen Energiesystems kommen nur Grundlastkraftwerke in Frage, die keine Treibhausgasemissionen verursachen. Zwei Technologien dominieren in den letzten Jahren dabei die Debatte: So keimt immer wieder dieDiskussion um einen Weiterbetrieb oder gar Neubau von Kernkraftwerken auf – auch wenn diese Option nun nicht Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hat. 

Im Koalitionsvertrag prominent formuliert ist hingegen der politische Wille, der Kernfusion möglichst schnell zur technischen Reife zu verhelfen und sie in die deutsche Stromversorgung einzubinden. Diese Technologie setzt im Gegensatz zu den heute üblichen Kernkraftwerken nicht auf die Spaltung schwerer Atomkerne, sondern die Fusion sehr leichter Atomkerne und strebt somit die Nachbildung der auf der Sonne ablaufenden Prozesse an. 

Wie eine Publikation der Akademieninitiative „Energiesysteme der Zukunft“ (ESYS) im vergangenen Jahr zeigte, erwarten Fachleute hier aber auch im Falle des grundsätzlichen Durchbruchs der Technologie keine nennenswerte kommerzielle Kraftwerkskapazität vor 2050.

Deutlich weniger Aufmerksamkeit erfährt die geothermische Stromerzeugung, eine weitere mögliche Form treibhausgasneutraler Grundlastkraftwerke. Das liegt auch daran, dass ihr Potenzial unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten auf Gebiete mit vorteilhaftem Untergrund beschränkt ist, wovon es in Deutschland nur wenige gibt.Geothermie eignet sich daher hierzulande eher für die Bereitstellung von Wärme.

Schließlich kommen unter Umständen Gas-und-Dampf-Kombikraftwerke für Erdgasin Betracht, dann allerdings – wie bereits zuvor gesagt – in Verbindung mit CCS.Eine Herausforderung ist hier die Infrastruktur für die dauerhafte Entsorgung des CO2. Jedoch sind diese Kraftwerke aufgrund ihrer höheren Betriebskosten nur bedingt für einen Grundlastbetrieb, sondern auch langfristig eher als Residuallastkraftwerke geeignet.

Sichere und günstige Energie ist auch ohne Grundlast möglich

ESYS hat sich in einer aktuellen Publikation basierend auf eigenen Modellrechnungen intensiv mit der Frage befasst, ob treibhausgasneutrale Grundlastkraftwerke eine Rolle im zukünftigen Energiesystem spielen können. Die Ergebnisse zeigen: Eine sichere und bezahlbare Stromversorgung ist auch ohne Grundlastkraftwerke möglich. Dennoch können solche Kraftwerke unter bestimmten Voraussetzungen sinnvoll in das europäische Energiesystem eingebunden werden.

Unsere Analysen zeigen: Damit Grundlastkraftwerke überhaupt wirtschaftlich zugebaut werden können und die Energiesystemkosten zumindest nicht erhöhen, dürfen ihre Baukosten nicht über denen des günstigsten Kernkraftwerks liegen, dasin den letzten Jahren in Europa gebaut wurde. Dabei handelt es sich um den EPR (European Pressurized Reactor) des Blocks 3 im Kernkraftwerk Olkiluoto in Finnland. Die aktuellen Kostenprognosen für die sechs in Frankreich geplantenEPR 2-Reaktoren bewegen sich ebenfalls in dieser Größenordnung. Für einen wirtschaftlichen Zubau in größerem Umfang müssten die Kosten erheblich unter dieses Niveau sinken. 

Eine AKW-Rechnung entscheidet, ob unser Energiesystem ohne Grundlast auskommt

Doch selbst bei diesen eher optimistischen Annahmen für die Kosten führen Grundlastkraftwerke in unseren Modellrechnungen kaum zu einersubstanziellen Kostenersparnis im Vergleich zu einem System, das vor allem auf den Ausbau von Solar- und Windenergie setzt. Es ist also nicht zu erwarten, dass die Stromversorgung durch mehr Grundlastkraftwerke deutlich kostengünstiger würde.

Hinzu kommt: Die Erfahrung zeigt, dass das Risiko für Kostensteigerungen und Verzögerungen beim Bau von Grundlastkraftwerken relativ hoch ist, bedingt durch die typische Komplexität von Großprojekten, aber teilweise auch durch den geringeren Reifegrad der entsprechenden Technologien. So werden bisher bei den meisten neu gebauten Kernkraftwerken in Europa sowohl die Kostenprognosen als auch die geplante Bauzeit überschritten, teilweise um ein Vielfaches.

Netzausbau im Blick: Wie Grundlastkraftwerke Strom und Wasserstoff beeinflussen

Neben ausreichend geringen Kosten ist eine Voraussetzung für das Zusammenspiel von Erneuerbaren und Grundlastkraftwerken ein gut entwickeltes Wasserstoffsystem, so ein eindeutiges Ergebnis der Modellrechnungen. DennElektrolyseanlagen können flexibel betrieben werden und Strom bevorzugt dann aufnehmen, wenn er im Überfluss vorhanden und günstig ist. Sie tragen so nicht nur zur Systemstabilität bei, sondern verbessern auch die Auslastung der Grundlastkraftwerke. Gleichzeitig reduzieren die wetterunabhängigen Grundlastkraftwerke den Bedarf an (Wasserstoff-)Gaskraftwerken oder vergleichbaren Anlagen zur Überbrückung längerer Dunkelflauten.

Sinnvolle Standorte für den Bau neuer Grundlastkraftwerke liegen in Regionen mit hoher Energienachfrage und begrenzten Potenzialen für Erneuerbare. In Europa sind das die Ballungsräume entlang der europäischen Hauptachse von England über West- und Süddeutschland bis nach Norditalien. 

Werden dort Grundlastkraftwerke errichtet, verschieben sich auch die Standorte für Elektrolyseanlagen – weg von der europäischen Peripherie mit ihren hervorragenden Potenzialen für Solar- und Windkraft hin zu den Grundlastkraftwerken im zentralen Bereich. Alles in allem sanken in unseren Modellrechnungen so nicht nur die Wasserstoffimporte aus Europa nach Deutschland deutlich, sondern auch die Stromimporte im Vergleich zu einem rein auf Erneuerbaren basierenden Szenario.

Elektrifizierung und Flexibilität – Die unsichtbaren Säulen der Energiewende

Trotzdem ergeben sich kaum Veränderungen beim erforderlichen Netzausbau, sowohl für Strom als auch für Wasserstoff: Zwar verringern sich die insgesamt transportierten Energiemengen, die maßgeblichen Spitzenlasten – die für den Netzausbau ausschlaggebend sind – bleiben jedoch weitgehend gleich. Auch Maßnahmen auf der Nachfrageseite, etwa die Elektrifizierung über Wärmepumpen, Elektromobilität und in Teilen der Industrie, bleiben wichtig – unabhängig davon, ob der Strom aus Erneuerbaren oder aus Grundlastkraftwerken stammt.

Unser Fazit ist also: Eine klimaneutrale, zuverlässige Energieversorgung ist auch ohne Grundlastkraftwerke möglich. Diese können unter passenden Voraussetzungen ergänzend zur Stromerzeugung beitragen – vor allem, wenn ihre Kosten deutlich sinken. Wegen der langen Bauzeiten und dem teilweise noch geringen Reifegrad der Technologien ist jedoch ein nennenswerter Beitrag zum Erreichen der Klimaziele 2030 unrealistisch, selbst für 2045 bleibt er fraglich.

Der zügige Ausbau von Wind- und Solarenergie bleibt daher entscheidend für die deutsche und europäische Energiewende. Die Fortsetzung der Elektrifizierung ist dabei der Schlüssel zum Erreichen der Klimaziele. Dies gilt, unabhängig vom eingesetzten Kraftwerkstyp, auch für Szenarien mit dem Zubau von Grundlastkraftwerken. Die Weiterentwicklung der Kernfusion in der Hoffnung auf eine zusätzliche Option für die klimaverträgliche Stromerzeugung bleibt schließlich auch mit diesen Erkenntnissen sinnvoll – gerade vor dem Hintergrund eines zu erwartenden weltweit stark weiter steigenden Strombedarfs.