Atlantik-Strömung vor dem Kollaps? Neue Trends machen Forschern Hoffnung
Klima-Kipppunkte galten in der Forschung lange Zeit als Ereignisse mit weitreichenden Folgen, aber geringer Eintrittswahrscheinlichkeit („Low Likelihood, High Impact Event“) – doch das ändert sich gerade. Weil sich die Erde absehbar um mehr als 1,5 Grad erwärmt, steigt für etliche Elemente im Erd- und Klimasystem – etwa den Grönländischen Eisschild oder den Amazonas-Regenwald – das Risiko teils abrupter, unumkehrbarer, sich selbst beschleunigender Veränderungen erheblich. Für die tropischen Korallenriffe scheint der Punkt bereits überschritten, ab dem sie großflächig und unwiederbringlich absterben. Das sind einige der wissenschaftlichen Erkenntnisse, die derzeit auf der Konferenz „Global Tipping Points“ in Exeter diskutiert werden.
Kipppunkte im Klimasystem: Warum das Risiko drastisch steigt
Besonders im Fokus steht auf der Konferenz die Atlantische Umwälzzirkulation (AMOC). Sie transportiert große Mengen Wärme im Atlantik nach Norden und bestimmt so Wetter und Klima in Nordeuropa entscheidend mit. Neuere Forschung deutet darauf hin, dass dieses System aus Ozeanströmungen instabiler sein könnte als lange gedacht, und in den kommenden 100 Jahren eine massive Abschwächung bis hin zum Kollaps drohen könnte.
Die britische Regierung hat gerade ein Forschungsprogramm gestartet, um ein Frühwarnsystem für den befürchteten Kollaps des Grönländischen Eisschilds und des sogenannten Subpolarwirbels südlich von Grönland – einem Teilsystem der AMOC – zu entwickeln. Über ihre noch junge Forschungsförderagentur ARIA gibt sie dafür 81 Millionen Pfund (umgerechnet rund 100 Millionen Euro). ARIA gehört zu den Veranstaltern der Kipppunkte-Konferenz, ebenso wie das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und das Max-Planck-Institut für Geoanthropologie in Jena.
Insgesamt werden in Exeter die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu rund einem Dutzend möglicher Kippelemente im Erdsystem debattiert. Es geht um die Fragen:
- welche Folgen ihr Kippen regional oder global auf Staaten, Volkswirtschaften oder Ökosysteme hätte,
- wie politische Entscheidungsträger mit diesen Risiken umgehen sollten und
- welche Möglichkeiten es gibt, das Überschreiten negativer Kipppunkte beim Klima noch abzuwenden.
Drohender Kollaps der AMOC: Was Europas Klima bevorstehen könnte
Die Eintrittswahrscheinlichkeit dafür, dass die AMOC kollabiert, liege nicht mehr Promille-, sondern längst im Prozentbereich – also, wie es einer der mehr als 500 Teilnehmer in einem Workshop zuspitzte, in einer Dimension, bei der Regierungen in anderen Risikobereichen selbstverständlich reagieren, etwa wenn es um das Absturzrisiko von Flugzeugen geht, Störfälle in Kernkraftwerken oder mögliche terroristische oder militärische Bedrohungen. Das Risiko eines AMOC-Zusammenbruchs – oder des Überschreitens anderer Kipppunkte – hingegen spiele bisher weder in der nationalen noch internationalen Politik eine große Rolle.
Das dürfte auch daran liegen, dass es bislang kaum Studien zu den konkreten Folgen etwa einer massiven Abschwächung der AMOC gab. Nordwesteuropa würde dann, heißt es noch etwas allgemein im Entwurf einer in Exeter bereits kursierenden Abschlusserklärung, „in langanhaltende, strenge Winter stürzen“, weltweit würde „die Sicherheit der Nahrungsmittel- und Wasserversorgung untergraben“.
Manche der auf der Konferenz präsentierten Forschungsprojekte zur AMOC sind erst durch neueste Klimamodelle oder den Einsatz künstlicher Intelligenz möglich geworden. So untersucht ein Forschungsteam der Universität Bern derzeit, wie sich Sturmmuster über Europa infolge eines AMOC-Zusammenbruchs verändern würden. Am Dänischen Meteorologischen Institut werden die verstärkten Überflutungsrisiken für Nordseehäfen erkundet, ein holländisches Team schätzt die ökonomischen Folgen für verschiedene Staaten ab (besonders betroffen wären demnach wohl so unterschiedliche Regionen wie Skandinavien, Portugal, Mittelamerika, Laos oder Indien).
Positive Kipppunkte: Wie Photovoltaik und E-Mobilität den Wandel antreiben
Diskutiert werden in Exeter aber auch sogenannte „positive Kipppunkte“. Damit sind Möglichkeiten gemeint, verschiedene Klimaschutztechnologien in ein rasantes Wachstum zu bringen – nur dann ist noch ein Tempo bei den Emissionsminderungen zu erreichen, das nötig wäre, um ein Überschreiten negativer Klima-Kipppunkte zu verhindern. Die Photovoltaik ist eine immer wieder genannte Erfolgsgeschichte für eine sich selbst verstärkende Entwicklung: durch steigende Nachfrage fuhr die Produktion von PV-Zellen hoch, was die Kosten stark sinken ließ, was eine weitere Nachfrage auslöste, weshalb noch größere Fabriken gebaut wurden, die Kosten noch weiter sanken, und wieder von vorn.
Ähnliches sei bereits bei Elektroautos gelungen – beziehungsweise deren teuerster Komponente, den Batterien. Jean-Francois Mercure, Professor für Klimapolitik an der University of Exeter, präsentierte auf der Konferenz Daten, die eine Ausbreitung des E-Auto-Booms von China in andere Weltregionen zeigt, gerade auch in Schwellen- und Entwicklungsländer. Diese erhielten dadurch neue ökonomische Chancen, unter anderem durch den Aufbau eigener Montageanlagen oder geringerer Ausgaben für den Import fossiler Kraftstoffe. „Das Wachstum bei E-Autos ist weltweit stark, aber es genügt noch nicht, um die Klimaziele zu erreichen“, so Mercure.
Elektromobilität brauche daher noch weitere politische Unterstützung, etwa sogenannte Mandate, also langfristige Pflichtquoten beim Marktanteil, die Unternehmen bei den Zulassungen erreichen müssen. Dadurch würden mehr Batterien produziert und Kostensenkungen beschleunigt. Würden solche Elektroquoten für Lkw in China, Europa, Indien, Kanada und einigen US-Bundesstaaten synchron eingeführt, rechnete Simon Sharpe vom Thinktank S-Curve Economics vor, würde die sogenannte Preisparität (also der Gleichstand bei den Anschaffungskosten von Diesel- und E-Lkw) mehrere Jahre früher erreicht – und so die emissionsarme Elektromobilität in diesem Sektor über einen Kipppunkt gebracht werden.