Anti-Bürokratie-Tirade machte ihn zum Youtube-Star - doch Amt lässt nicht locker

Heute ist Bürokratie-FREItag. In unserer Serie schildern wir, wie sich Menschen und Unternehmen im deutschen Bürokratiedschungel verfangen. 

Marco Scheel, aus Rügen stammend und auf dem Gut Teplitz in Mecklenburg-Vorpommern ansässig, ist Wirtschaftsingenieur von Beruf – seine Berufung aber sind Schafe. Genauer gesagt, deren Wolle und alles, was man – nachhaltig und umweltbewusst – daraus herstellen kann. Seit 2013 ist er Textilunternehmer mit profunden Kenntnissen aller denkbaren Eigenschaften von Wollprodukten, je nachdem, woher sie stammen und von welcher Schafrasse. Sein Geschäft auf Rügen bietet eine stets wachsende Auswahl an Textilien und ausgefallenen Produkten, nicht billig, natürlich. Soweit eine Erfolgsgeschichte typisch deutscher Unternehmerleidenschaft. Wäre da nicht die leidige Welt der Vorschriften, Anordnungen, Richtlinien und Regeln.

Co-Working? Nein, Schafstall

Denn diese Welt ist mit Marco Scheel nicht kompatibel. Der Mann denkt logisch und folgerichtig, sieht Widersprüche und Ungereimtheiten. Und davon eine Menge. „Ich sitze hier illegal“, beginnt Scheel unser Gespräch. Denn: In dem 200 Jahre alten Stall des historischen Landgutes produziert er und hat dort seinen Unternehmenssitz – er brauchte einfach Platz: „Wir können nicht alle mit einem MacBook und einem Chai Latte in Berlin in einem Co-Working-Space sitzen und die zehnte Dating-App erfinden.“ 

Er habe mit Produkten und Materie zu tun, „und dafür braucht man nun mal Platz“, zitiert ihn die „Welt“. Für Mensch und Schaf, für schweifende Gedanken und Ideen. Die Nutzungspläne des Stalls zur Textilproduktion, ordnungsgemäß beantragt, ließen bei den örtlichen Behörden Schnappatmung aufkommen. 

Vorschrift vor Vernunft

Mit den ausgefallensten Begründungen versuchten die Ämter, das Vorhaben zu verhindern – vom fehlenden Bebauungsplan im Außengebiet bis hin zu Statik und Brandschutz gab es kaum etwas, was man dem Gründer nicht vor die Füße legte. Die Auseinandersetzungen gipfelten in einer veritablen „Wutrede“ Scheels, als er sich bei Dreharbeiten des NDR über sein Unternehmen derart in Rage redete, dass seine Schilderungen aberwitziger Bürokratie viral gingen. Auf YouTube ist er seitdem ein Star und die weitergesponnene Saga seines Unternehmens fesselt hunderttausende Fans.

Zu erzählen gibt es reichlich. Warum er im ersten Stock seines früheren Stalls nun „illegal“ sitzt, umgeben von Mitarbeitern, Akten und Computern? Nun, „wir dürfen weder die Treppe noch das Obergeschoss nutzen“, sagt er. „Denn die Treppe steht auf einer Granitplatte; das ist ein Naturstoff, für dessen Eignung ein gesondertes Statikgutachten gebraucht wird“.  Und: „Ein Rauchabzugsfenster entspricht nicht den Vorschriften. Denn ein solches Fenster muss ohne Werkzeug zu öffnen sein. Nun wird unseres aber mit einer daran hängenden Kette bewegt“. Der Aberwitz: Eine Kette gilt, zumindest in Mecklenburg-Vorpommern, als „Werkzeug“. Also – keine Genehmigung. Eine ausgefeilte elektrische Brandwarnanlage mit Fensteröffnung wäre wohl im Sinne der Behörden. Was aber fällt bei einem Feuer oft als erstes aus? „Wohl der Strom, oder?“. Also: „Nutzungsuntersagung“. Obwohl Statiker diverser Spezialisierungsgebiete, Brandschutzingenieure und Architekten vor dem Umbau ein am Ende tatsächlich genehmigtes Konzept entwarfen. Behördenreaktion: „Er hat anders gebaut als genehmigt“. 

Der böse Unternehmer

Marco Scheel, der sozial engagiert und überzeugter Naturschützer ist, sieht dagegen pausenlose Eingriffe in sein Eigentumsrecht. Grund sei, so mutmaßt er, auch eine grundsätzliche Voreingenommenheit. „Ich, als böser Unternehmer, nähme wohl in Kauf, dass meine armen Mitarbeiter hier bei lebendigem Leib verbrennen oder ihnen die Decke auf den Kopf fällt“, beschreibt er seine Wahrnehmung durch die Ämterwelt. Da herrsche ein irres Zerrbild. „Ich muss ausgebremst werden und meine armen Mitarbeiter geschützt werden vor mir“. In der Literatur zum Baurecht sieht er haufenweise Ansätze in dieser Richtung: „Unternehmer müssen strikten Vorsorgeprinzipien entsprechen, werden in der Ökologie-Gesetzgebung unter Generalverdacht gestellt, im Lieferkettengesetz sowieso“. In der Tat kamen Behördeneinwände gegen seinen Betrieb auch dahingehend, dass er ja auch Wolle von portugiesischen Schafen verarbeite. Nun ist aber eine Regulierung in Vorbereitung, nach der Schafe nicht mehr in Korkeichenwäldern weiden dürfen, was in Portugal Tradition ist. Grund soll die Vorsorge gegen Waldbrände sein. Und importierte Schafwolle schmälerte in den Augen der Obrigkeit sein Anrecht, als lokal förderungswürdiger Schafhalter zu gelten, der alte Rassen, die sonst aussterben würden, im Bestand halte. Was er im übrigen tut, sagt Scheel. Aber jede Schafwolle aus unterschiedlichen Weltgegenden hat ganz besondere Eigenschaften, die ihre Verwendung für sehr spezielle Kleidungszwecke geeignet sein lässt. 

Dafür reicht auch KI

Als eine untere Verwaltungsbehörde ihm quasi vorwurfsvoll bescheinigte, er würde Wolle ja sogar „aus Rügen importieren“, offenbar nicht ahnend, dass Rügen deutsches Territorium ist, zog Marco Scheel eine einschneidende Konsequenz: „Die Kommunikation mit den Behörden ist eigentlich nichts anderes als eine Art Beschäftigungstherapie. Das müssen wir uns nicht geben. Deshalb bekommen die Ämter von uns nur noch ChatGPT. Wir lassen die KI antworten, dann können die sich damit befassen und wir haben die nötige Zeit, uns ums Business zu kümmern. Ich kann sowas nicht mehr ernstnehmen“. Ein Textilunternehmer als Business Punk neuer Schule? Fürs erste jedenfalls haben sich Behörden und Gründer weiter in der Wolle.

Deutschland und seine Vorschriften

Marco Scheel denkt aufgrund seiner Erfahrungen weit über das Anekdotische seiner Erfahrungen hinaus. Für ihn sind die Auswüchse der längst nicht mehr zähmbaren Bürokratie auch Grund genug, über deren Entstehung und Wucherung in der Demokratie der Bundesrepublik nachzudenken. „Wenn wir alle, als Bevölkerung, von der Politik erwarten, dass der Staat für jedes Ungemach, jedes Wehwehchen ein Pflaster bereithält, dann müssen Politiker so handeln, wie sie es tun. Und halt nur das umsetzen, was wir als Bürger uns zu denken trauen“. Und dann müsse die Regulierung eben genau so sein, wie sie zur Zeit gebaut werde. Das „ist der Zielkonflikt in jedem Deutschen: Einerseits wollen wir Bürokratieabbau, auf der anderen Seite wollen wir preußische Ordnung. Es muss alles geregelt sein“.

Nun schlage das Pendel momentan stark in die eine, die „preußische Richtung“ aus. Andererseits: „Wir haben in Deutschland immer noch einen funktionierenden Rechtsstaat, wir haben eine – zwar sich verschlechternde, aber weiterhin gute Infrastruktur und ein Bildungssystem, das ich als Unternehmer in Gestalt der Bildung meiner Mitarbeiter nutze, ohne dafür bezahlt zu haben“, spannt Scheel den Bogen weiter. Von daher seien Regelungen zum sozialen Ausgleich wichtig und würden in Hinblick auf die Zukunft des Landes immer wichtiger. 

Gefeiert im Netz, gefesselt vom Amt

Über seinen Erfolg bei YouTube macht sich der Nordwolle-Eigner kaum Illusionen. Die überwältigenden Reaktionen und Kommentare überraschen ihn weniger. „Für uns ist der Gang an die Öffentlichkeit zunächst einmal schlecht. Man tritt Leuten auf den Schlips, die werden sauer und mauern erst recht. Aber: Wir treffen einen Nerv, weil es Millionen von Leuten in Deutschland genauso geht. Jeder hat seine Erfahrungen mit sinnloser Bürokratie. Und sie feiern es, dass sich jemand traut, denn sie wissen natürlich, für sie selbst wäre es schlecht, das nachzuahmen. In mir sehen sie jemanden, der es wagt, Ross und Reiter zu nennen, obwohl es sich für ihn negativ auswirkt.

Kette, Schnur und 8.580 Seiten Vorschrift

Gibt es denn keinen Lichtblick? Doch, natürlich: „Die stellvertretende Landrätin in Nordwest-Mecklenburg in Grevesmühlen, Juristin, ist konstruktiv an die Dinge herangegangen, wir schätzen sie sehr. Aber auch sie muss sich auf die Vorarbeiten der Fachbehörden stützen, die eben das Baurecht kennen, und kann das nicht einfach beiseiteschieben. Aber ihr ist natürlich auch aufgefallen, dass eine Kette am Entrauchungsfenster nun wirklich kein „Werkzeug“ ist. Ihr sind dann aber auch die Hände gebunden“. Und der Gedanke, die Kette durch eine Schnur zu ersetzen, führt ins Verderben. „Die Schnur ist eine Brandlast“, zitiert Scheel die Behörde, „da waren wir auch schon“.

Dabei sagt das Baurecht nur, dass es ein Entrauchungsfenster geben muss, an der höchsten Stelle der Treppe nach oben, es muss einen halben Quadratmeter zu öffnen sein. „Das ist alles“, sagt der Unternehmer. „Und daraus entsteht dann in den weiteren Bestimmungen ein dickes Buch - eben mit Kette, Schnur, Brandmeldeanlage elektrisch/nicht elektrisch, Position der Schalter, wo dürfen sie sein, wo dürfen sie nicht sein… also, das muss man studiert haben, man muss eigentlich ‚Entrauchungsfenster‘ studiert haben, um das gesetzeskonform zu installieren“. Das und mehr bietet in Deutschland natürlich der Feuer-Brandschutzatlas. Das sechsbändige Werk, 8.580 Seiten mit 1.650 farbigen Abbildungen („mit Sonderordner DIN 4102-4 + Eurocodes und CD“) ist übrigens für rund 450,00 Euro online bestellbar. 

Bürokratie vs. Pareto

Die Kurzanalyse von Marco Scheel: „Es ist ja eine tolle Sache, dass es die unteren Verwaltungsbehörden gibt, um die verschiedenen Interessen in einer komplexen Gesellschaft unter einen Hut zu bringen. Wenn aber eine Regelung mich schlechterstellt, ohne jemand anderen besserzustellen, dann gehe ich auf die Barrikade“. Man nennt es das Pareto-Prinzip, benannt nach dem öffentlich fast vergessenen Schweizer Ökonomen Wilfried Pareto, der über Wohlfahrtsökonomie forschte.

...und die Wolle gewinnt

Derweil floriert die M.S. Nordwolle GmbH, denn vor dem unfreiwillig erworbenen Wissen über die Irrungen und Wirrungen des deutschen Verwaltungswesens stand die Erforschung des europäischen Wollmarktes, der verschiedenen Schafrassen, seien es das portugiesische Urmerino oder das Coburger Fuchsschaf, und der idealen Verwendung ihrer unterschiedlichen Wollstrukturen. „Das macht so niemand außer uns“, sagt Scheel. „Dafür muss man Nerd sein auf diesem Gebiet“. Zur Vorstellung seiner Ideen und dem dahinterstehenden Handwerk gibt es mittlerweile das Werksfestival auf dem Gut Teplitz. Am letzten Wochenende im Juli, 26. Und 27. Juli 2025. Der Brandschutz ist gewährleistet.

Artikel verfasst von The European