Ich stand da, die Arme verschränkt, im Flur eines Krankenhauses. Eine alte Frau war gerade gestorben. Draußen das Personal, das weitermachen musste. Und ein Sohn, der unterwegs war, einen weiten Weg hinter sich hatte.
In solchen Momenten zeigt sich, wie eng getaktet Sterben im Alltag von Pflege und Klinik geworden ist. Kaum ist jemand gestorben, beginnt die Routine: Zimmer räumen, reinigen, neu belegen – am besten noch in derselben Schicht.
Das ist kein böser Wille. Wer in Pflege oder Krankenhaus arbeitet, steht unter Druck. Ich verstehe das vollkommen. Aber genau deshalb geht oft verloren, was eigentlich bleiben sollte: ein Moment des Begreifens.
Zwischen Protokoll und Menschlichkeit
Ein verstorbener Mensch ist kein logistischer Vorgang. Er war bis eben Teil eines Lebens. Ein Raum, in dem jemand gestorben ist, ist kein leerer Raum – er ist ein Übergangsort.
Wer trauert, braucht keine Abläufe, sondern Zeit. Zeit, um sich zu verabschieden, Zeit, um zu begreifen.
Viele unterschätzen, wie heilsam es ist, sich noch einmal am Körper eines geliebten Menschen zu verabschieden. Nicht aus Sentimentalität, sondern weil es real ist. Die Hand halten, den Geruch wahrnehmen, die Haut spüren. In dieser Nähe entsteht das, was man später „Erinnerung“ nennt.
Ein Moment, der bleibt
Ich erinnere mich an die Stille in diesem Zimmer, nachdem alles entschieden war. Kein Summen, kein Licht, das piepte. Nur Ruhe.
Dann kam der Sohn. Er setzte sich, legte seine Hand auf ihre Schulter, sagte leise: „Ich bin da.“ Mehr braucht es nicht. Kein Ritual ersetzt diesen Augenblick.
Wenn Angehörige da sind, wenn jemand Verantwortung übernimmt, lässt sich dieser Moment schaffen. Manchmal genügt eine einfache Bitte: „Wir möchten uns noch verabschieden.“
Und wer sich früh kümmert, kann sogar ermöglichen, dass ein verstorbener Mensch noch einmal nach Hause gebracht wird – für ein paar Stunden oder eine Nacht. Das braucht Absprache mit dem Krankenhaus, aber es ist möglich. Und es verändert alles: Ein Abschied im eigenen Zuhause, dort, wo das Leben stattgefunden hat, ist oft der ehrlichste.
Das System und die Zeit
So etwas kostet keine Stunden, kein Geld, keine große Organisation. Nur das, was im System am knappsten ist: Aufmerksamkeit. Ein bisschen Zeit, die niemandem schadet – aber alles verändert.
Ich verstehe den Druck in Kliniken. Ich verstehe, dass es weitergehen muss. Aber vielleicht sollten wir uns ab und zu daran erinnern, dass der Tod nicht nur das Ende eines Lebens ist, sondern der Anfang einer Erinnerung.
Und Erinnerung braucht einen Moment, in dem sie entstehen darf. Der Tod passiert jeden Tag. Aber wie wir mit ihm umgehen, ist keine Frage des Systems, sondern des Willens.
Wer hinsieht, wer fragt, wer kurz innehält – der gibt den Menschen, die bleiben, etwas, das unbezahlbar ist: das Gefühl, dass nichts einfach „weg“ war, sondern jemand da war, bis zum Schluss.
Eric Wrede, Bestatter, Autor und Podcaster, prägt mit lebensnah Bestattungen eine moderne Trauerkultur in Deutschland und steht für einen offenen, authentischen Umgang mit Tod, Abschied und Neubeginn. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.
Infobox: Was Angehörige wissen sollten
- Wie lange darf ein verstorbener Mensch im Zimmer bleiben?
In den meisten Bundesländern darf ein Verstorbener bis zu 36 Stunden am Sterbeort bleiben, bevor er in einen gekühlten Raum überführt werden muss. In einigen Bundesländern sind sogar 48 Stunden erlaubt.
Das bedeutet: Angehörige haben Zeit – für Ruhe, Abschied und ein erstes Begreifen.
- Wer darf entscheiden?
Die Entscheidung, wann und wohin ein Verstorbener überführt wird, liegt bei den Totenfürsorgeberechtigten – also bei den nächsten Angehörigen oder einer Person, die der Verstorbene zu Lebzeiten bestimmt hat.
Dieser Mensch darf einer vorschnellen Überführung, etwa in die Pathologie, innerhalb der gesetzlichen Fristen widersprechen.
- Was können Angehörige tun?
• Frühzeitig mit dem Krankenhaus sprechen: „Wir möchten noch etwas Zeit im Zimmer verbringen.“
• Einen Bestatter kontaktieren, der die Kommunikation mit dem Haus übernimmt.
• Wenn gewünscht, den Wunsch äußern, den Verstorbenen noch einmal nach Hause zu bringen – für einen persönlichen Abschied in vertrauter Umgebung.
Oft reicht ein ruhiges Gespräch, um aus Abläufen wieder Begegnung zu machen.