Peinlicher Irrläufer: Putin bombardiert eigenes Volk mit „intelligenter Gleitbombe“
„Friendly Fire“ heißt der Beschuss durch eigene Truppen. Russland leidet unter Gleitbomben-Irrläufern. Für Analysten gehört das in einem Krieg dazu.
Belgorod – „Versehentliche Freisetzung von Flugzeugmunition“, begründeten Wladimir Putins Invasionstruppen einen Vorfall, über den die Washington Post im vergangenen Sommer berichtet hatte: den Beschuss russischen Territoriums mit Gleitbomben; den eigenen Gleitbomben. Im Ukraine-Krieg hinterlassen diese „intelligenten“ Systeme Russlands auch Opfer unter der eigenen Bevölkerung – was Moskau nur widerwillig zugibt, aber laut der Ukrainska Pravda jetzt schon wieder in der Region Belgorod geschehen sein soll.
Wie die Nachrichtenagentur Reuters meldet, habe Russland den Einsatz von Lenkbomben erstmals Anfang des vergangenen Jahres zur Vorbereitung der Einnahme der inzwischen zerstörten Stadt Awdijiwka verstärkt. Im weiteren Verlauf des Ukraine-Krieges hätte die Munition für die grenzüberschreitende Offensive in der nordöstlichen Region Charkiw eine entscheidende Rolle gespielt. Laut der BBC geht der Thinktank Center for European Policy Analysis (CEPA) davon aus, dass Russland ohne Gleitbomben-Terror in den Gefechten beispielsweise um Awdijiwka keine Chance gehabt hätte.
Putins gnadenlos: Russland nimmt auch durch diese Waffen hohe Verluste in den eigenen Reihen in Kauf
Die Berichte über „friendly fire“ durch Gleitbomben reißen nicht ab – Russland nimmt also auch durch diese Waffen hohe Verluste in den eigenen Reihen in Kauf. Wie Newsweek berichtet hat, hatten russische Gleitbomben auch in den Kämpfen um Charkiw die eigenen Reihen dezimiert. Laut der Washington Post seien allein zwischen April 2023 und April 2024 mindestens 38 derjenigen Bomben, mit der Putin seinen Bodentruppen den Weg ebenen wollte, in der Region Belgorod im Grenzgebiet zur Ukraine abgestürzt. Die Statistik-Plattform Asta habe 2024 mindestens 165 Fälle von Gleitbomben-Bombenabwürfen in Russland und in den von Russland kontrollierten besetzten Gebieten der Ukraine gezählt, berichtet die Ukrainska Pravda. Jetzt also erneut in der Nähe des Dorfes Bolschije Kulbaki im Bezirk Belgorod – die Bombe ist als Blindgänger im Boden stecken geblieben.
„Unseren Schätzungen zufolge versagt nur ein Bruchteil dieser Bomben, sodass dies die praktische Wirksamkeit dieser Waffe nicht beeinträchtigt, so zynisch das auch klingen mag.“
„Es ist schwer, sich ein Ziel vorzustellen, das von einer Fliegerbombe dieser Größe nicht zerstört werden würde“, soll ein Pilot beim Start der Bombe gesagt haben. „Sie sind sehr furchterregend und tödlich. Selbst aus einem Kilometer Entfernung reißt die Explosion die Türen von Gebäuden aus den Angeln“, sagte gegenüber der Financial Times (FT) ein ukrainischer Soldat mit Namen Bohdan. Das war im April vergangenen Jahres, als die Invasoren angefangen hatten, mit Bomben um sich zu werfen, mit einem Gewicht zwischen 500 und 1500 Kilogramm Sprengstoff – mittlerweile tragen die Russen die Kraft der Verwüstung von drei Tonnen Sprengstoff in ihr Nachbarland.
Die FT zitiert ukrainische Militärs, wonach die Russen allein von Jahresanfang 2024 bis April 2024 mit rund 3500 solcher gelenkter Fliegerbomben angegriffen hätten, das sei eine 16-fache Steigerung gegenüber 2023, wie die FT schreibt und den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj dahingehend zitiert, allein in der dritten Märzwoche habe Russland „über 700 gelenkte Fliegerbomben abgefeuert“, wie er gesagt hat.
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Ukraine-Krieg: Auch russische Zivilisten durch Gleitbomben extrem gefährdet
Bei zwei Angriffen Mitte Juni auf die Stadt Lyptsi, rund 20 Kilometer nördlich von Charkiw verfehlten beispielsweise jeweils drei Tonnen schwere Bomben ihre Ziele nur um wenige Meter, wie das Magazin Forbes berichtet hat– „aber das spielte kaum eine Rolle“, schrieb Forbes-Autor David Axe. Er bezieht sich auf den pro-russischen Blogger „Fighterbomber“, der angibt, ein ehemaliger russischer Militärpilot gewesen zu sein und auf seinem Telegram-Kanal wiederholt Kriegsereignisse kommentiert. Eine FAB-3000-Bombe verursache laut „Fighterbomber“ „Explosionsschäden bis zu einer Entfernung von mehr als 200 Metern – und schleudert tödliche Splitter über mehr als 1200 Meter weit“.
Insofern sind auch russische Zivilisten durch Gleitbomben extrem gefährdet. Wie die Washington Post berichtet, seien Gleitbomben eben nicht nur in der Grenzregion Belgorod niedergegangen, sondern beinahe auch in der Metropole selbst; dort leben immerhin mehr als 350.000 Menschen. Russland griff zuletzt zunehmend auf Gleitbomben zurück, weil sich durch das Anbringen von Kits aus Leitwerken und Antrieben diese Bomben nicht mehr nur vertikal nach unten bewegen, sondern einen Flug von bis zu 70 Kilometern in der Horizontalen unternehmen könnten. Deren Trägerflugzeuge könnten die Bomben somit außerhalb der ukrainischen Luftabwehr abfeuern. Allerdings haben diese Waffen zwar den Kriegsverlauf zu Russlands Gunsten gestaltet, aber auch noch keine Entscheidung erzwingen können.
Ukraine verteidigt offensiver: Allerdings sollte das auch kein Grund für Optimismus sein, warnen Experten
Weil sie nämlich in gewisser Weise schwer kontrollierbar sind und ihnen die Präzision fehlt. John Hardie hatte Mitte vergangenen Jahres die Kritik russischer Militärblogger an den Waffen wiedergegeben. Der Analyst des US-Thinktanks Foundation for Defense for Democracies notiert, dass die Mehrzahl der gestarteten Gleitbomben in einem Radius von rund zehn Metern vom Ziel entfernt einschlagen sollten. Vor allem die drei Tonnen schweren Bomben würden aber oft weiter abgetragen werden und lediglich in einem Radius von 30 Metern niedergehen; möglicherweise würden sie auch danach gar nicht detonieren. Militärblogger hätten demnach kritisiert, dass Russland mit einer größeren Menge kleinerer Bomben mehr Wirkung erzielen sollte.
„Eine Gleitbombe kann bei einem Ausfall der Satellitennavigation auf ein Trägheitsnavigationssystem zurückgreifen, dieses ist jedoch für eine präzise Zielerfassung weniger geeignet. Die Fehler nehmen zu, je weiter die Bombe ohne Satellitenführung fliegt“, schreibt John Hoehn. Laut dem Militär-Analysten des US-Thinktank RAND würde durch die Wirksamkeit der elektronischen Kriegsführung der Ukraine der Terror eingedämmt werden, aber die grundsätzliche Gefahr bliebe bestehen. Demnach wäre die fehlende Präzision in der nachlassenden Qualität der russischen Waffen genauso begründet, wie in der Qualität der ukrainischen Luftabwehr-Maßnahmen.
Allerdings sollte auch das kein Grund für Optimismus sein, warnen Beobachter, wie die Washington Post im vergangenen Jahr deutlich zu machen versucht hat anhand Ruslan Levievs Äußerung dem Blatt gegenüber: „Ein gewisser Prozentsatz der russischen Bomben ist defekt. Dieses Problem besteht, seit sie diese Kits verwenden, und es wird nicht grundlegend gelöst. Wir glauben, dass diese unbeabsichtigten Abschüsse auf die Unzuverlässigkeit dieser Kits zurückzuführen sind, was die Luftwaffe anscheinend nicht stört“, so der Militärexperte der Conflict Intelligence Group gegenüber der Post.
Russlands Gleitbomben-Einsatz: Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Diese Bomben im Anflug zu zerstören, sei illusorisch, sagt Justin Bronk. Ohnehin seien die relativ kleinen Objekte schwer zu orten und zu vernichten, so der Spezialist für Luftwaffe und Militärtechnologie am britischen Thinktank Royal United Services Institute (RUSI). Wladimir Putin könne deshalb Einrichtungen so lange bombardieren lassen, bis diese in Schutt und Asche lägen. Letztendlich würde auch die fehlende Präzision kaum etwas am großen Ziel ändern: Zerstörung von Lebensraum und Terror unter der meist zivilen Bevölkerung, bis diese sich zum Aufgeben entscheide.
Ob nun beabsichtigt die ukrainische oder unbeabsichtigt die russische – immer bleibt die „Zivilgesellschaft im Fadenkreuz“, wie die Blätter für deutsche unter internationale Politik zuspitzen. „Einen sauberen Krieg gibt es nicht. Immer leiden Zivilisten, die unschuldig in die Frontlinie geraten. Wenn aber Angriffe auf Zivilisten zur Kriegstaktik erhoben werden, dann muss mit lauter Stimme an das Völkerstrafrecht erinnert werden. Dann handelt es sich auch nicht mehr nur um einzelne Verfehlungen gegen die Regeln des humanitären Völkerrechts, sondern um Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, konstatiert Christoph Safferling in der Legal Tribune Online.
Ruslan Leviev macht deshalb deutlich, dass die einzelnen Meldungen über fehlgeleitete Bombenabwürfe keinen Zweifel an dem militärischen Nutzen an diesem Waffensystem rechtfertigten, wie er gegenüber der Washington Post gesagt hat: „Unseren Schätzungen zufolge versagt nur ein Bruchteil dieser Bomben, sodass dies die praktische Wirksamkeit dieser Waffe nicht beeinträchtigt, so zynisch das auch klingen mag.“