„Ich bin bei dir“ – Was ein Mensch nach sexualisierter Gewalt wirklich braucht

Es war kurz nach neun Uhr morgens, als meine Freundin vor meiner Tür stand. Ihr Blick leer, ihre Stimme brüchig. „Ich bin gerade vergewaltigt worden“, flüsterte sie. Ich erstarrte. Und ich wusste: Jetzt braucht sie jemanden, der bleibt. Also sagte ich: „Ich bin bei dir.“

Wir gingen gemeinsam zur Polizei. Als der Beamte am Empfang laut fragte, worum es gehe, stellte ich mich schützend vor sie: „Das ist vertraulich.“ Ich sprach für sie, hielt ihre Hand, war einfach da. Still, präsent, ohne Worte zu suchen, die es sowieso nicht gibt.

Zwischen Klinik, Anzeige und Untersuchungen vergingen Stunden. Es gab wertvolle Momente, die uns Halt gaben. Ein warmer Schokogipfel, ein freundlicher Blick beim Empfang in der Klinik, eine Polizistin, die so achtsam wie möglich vorging. Ein Stück Normalität inmitten des Unfassbaren.

In den Tagen danach kamen viele Reaktionen. Manche bewunderten ihren Mut. Andere zweifelten am Sinn der Anzeige. Doch für sie war klar: Es ging nicht in erster Linie um den Täter. Es ging um sie. Ihre Würde. Um eine Grenze, die sie für sich gesetzt hatte. Ein wichtiger Schritt für ihre künftige Heilung.

Über Chris Oeuvray

Chris Oeuvray hat als langjährige psychologische Beraterin tiefen Einblick und umfangreiche Fachkenntnis zu Herausforderungen und Konflikten. Ihre Schwerpunkte sind Narzissmus und Mobbing. Ihr Ratgeber "Narzissmus – ohne mich" hilft Betroffenen von narzisstischem Missbrauch. Sie ist 1967 geboren und lebt mit Partner und Sohn in Zug (Schweiz).

1. Präsenz statt Perfektion

Wer helfen will, muss keine perfekten Worte finden. Es reicht, da zu sein. Still zuhören. Die Hand halten. Einen Blick sagen lassen: „Ich bin für dich da.“ Denn der größte Halt nach einem solchen Erlebnis ist das Gefühl: Ich bin nicht allein. Emotionaler Beistand hat heilende Wirkung, besonders dann, wenn das Vertrauen in die Welt erschüttert ist.

2. Praktische Hilfe – konkret und bedingungslos

Es sind die kleinen Dinge, die in einer Extremsituation Großes bewirken: Begleitung zur Polizei, ein Anruf bei der Beratungsstelle, mitfahren zur Klinik. Einfach mitgehen, mittragen, mitdenken, ohne zu bewerten oder infrage zu stellen. Auch praktische Unterstützung in den Tagen danach kann entlasten: Kochen, mit den Kindern helfen, Termine koordinieren. Was zählt, ist Klarheit: Ich bin für dich da, so lange du willst.

3. Haltung zeigen – als Mensch, als Gesellschaft

Es reicht nicht, nur auf strengere Strafen zu hoffen. Das Strafmaß liegt in den Händen der Politik. Und ja, es braucht dringend mehr Konsequenz. Doch genauso wichtig ist, was wir als Gesellschaft jetzt schon tun können.

Betroffene brauchen keinen Zweifel. Sie brauchen Rückhalt.

Fragen wie „Bist du sicher?“ oder „Bringt das überhaupt etwas?“ verletzen. Was hilft, sind klare, bestärkende Worte wie:

  • „Steh für dich ein.»
  • „Ich bin bei dir.“
  • „Du musst das nicht allein tragen.“

Scham darf nicht länger bei den Opfern liegen.

Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, dürfen sich zeigen, ohne Schuld, ohne Erklärungspflicht. Der Mut, sich zu wehren oder Hilfe zu holen, verdient Respekt, keine Bewertung.

Solidarität zeigt sich im Kleinen. Zuhören. Ernst nehmen. Bleiben. Aufstehen, wo andere wegsehen. Und deutlich machen: Wir schützen nicht Täter, sondern Menschen, die verletzt wurden.

Ihre Unterstützung ist Gold wert

Vergewaltigung ist kein Randthema – sie passiert mitten unter uns. Wer Betroffenen zuhört, sie begleitet und stärkt, sendet ein wichtiges Signal: Du bist nicht schuld. Und du bist nicht allein. Jeder von uns kann diese Rolle übernehmen. Nicht als Held. Sondern als Mensch. 

Haben Sie schon mal jemanden in einer schwierigen Situation unterstützt?

Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.