„Haben fast Angst davor“: Warum die Mittelschule besser ist als ihr Ruf
Bald gibts Übertrittszeugnisse - und fast niemand will auf die Mittelschule. Zu Unrecht, wie Lehrer und Eltern finden. Für einige Schüler sei das Umfeld perfekt.
Bad Tölz-Wolfratshausen – Das erste Mal wird in der vierten Klasse getrennt: Wenn es in wenigen Tagen Übertrittszeugnisse an den Schulen in Bayern gibt, freuen sich einige Schüler über die Zugangsberechtigung zum Gymnasium, andere über eine Empfehlung für die Realschule. Und die Mittelschule? Die gibt es auch. Gejubelt wird über diese Aussicht in keinem Klassenzimmer – und auch nicht am Esstisch mit der Familie.
„Einige haben fast Angst davor“: Warum die Mittelschule besser ist als ihr Ruf
„Ich habe den Eindruck, kaum jemand will das für sein Kind“, sagt die Wolfratshauser Grundschullehrerin Michaela Fuchs über die Mittelschule. „Einige haben fast Angst davor, dass ihr Kind nicht auf eine weiterführende Schule kommt.“ Fuchs hält diese kategorische Ablehnung für falsch. „Es gibt viele Kinder, für die diese Schulform genau die richtige sein kann“, sagt die erfahrene Lehrkraft. „Ich glaube aber, viele Eltern machen sich Sorgen um andere Dinge.“ Etwa den Statusverlust, der damit einhergehen könnte, dass die Nachbarskinder auf die Realschule gehen und das eigene Kind auf die Mittelschule.
Druck unter den Eltern ist groß - Übertritt in Bayern sorgt für schwierige Entscheidung
Das hat Melanie Lehnert erlebt. Sie ist Elternbeirätin an der Grund- und Mittelschule am Hammerschmiedweg in Wolfratshausen. Ihr Sohn besucht die sechste Klasse. Für die Familie war die Mittelschule nie ein Problem: „Wir sehen das recht entspannt. Er soll das machen dürfen, was für ihn am besten ist.“ Und verschiedene Punkte der Schulform – das Klassleiterprinzip zum Beispiel – kämen ihrem Spross entgegen. „Ich weiß, dass einige Eltern das gar nicht so locker sehen. Das macht es für die Kinder auch viel schwerer.“ Und zwar schon lange vor dem Übertrittszeugnis. Einige Kinder müssten übermäßig viel lernen, um schon in der Grundschule Top-Noten zu schreiben. „Wenn es dann nicht für die Realschule reicht, sind viele andere Familien wirklich enttäuscht “, sagt Lehner.
„Sie kommen ohne Selbstbewusstsein“: An der Mittelschule bauen Lehrer die Kinder auf
Lisa Ender muss diese Enttäuschung im Alltag ausbaden. Sie ist Mittelschullehrerin in Geretsried. „In den ersten Wochen der fünften Klasse geht’s fast nur darum, die Kinder aufzufangen und aufzubauen. Die kommen ohne Selbstbewusstsein bei uns an.“ Wie sie versucht, zu helfen? „Wir zeigen den Kindern ihre Stärken, und dass sie auch etwas können.“
Den schlechten Ruf dieser Schulform versteht sie nicht. Von ihren Schülern weiß sie mehr als das, was auf dem Notenbogen steht. Aufgrund des Klassleiterprinzips, das die Schüler aus der Grundschule kennen, ist sie Lehrerin in fast allen wichtigen Fächern und hat viel Kontakt mit den Kindern. „Wir können uns wirklich um sie kümmern. Wir kennen sie“, sagt Ender. Das sei eine ganz einfache Rechnung: Sie unterrichtet eine Klasse mit etwa 25 Schülern. An weiterführenden Schulen hat eine Lehrkraft vielleicht sechs Klassen von 30 Schülern in einem Halbjahr – „da können die Lehrer ja gar nicht so enge Bezugspersonen sein“. Die Mittelschule hebe sich zudem durch andere Aspekte ab: „Die Kinder lernen hier ganz praktische Dinge, die sie später anwenden können“. Es gibt das Fach Wirtschaft und Beruf ab der fünften Klasse.
Berufsaussichten sind gut - die Vorbereitung auch
Die Schüler erhalten Orierientierungshilfen für die Wahl eines Jobs und kriegen Einblicke in die Arbeitswelt, die sie nach der Schule erleben werden. „Vieles in unserem Unterricht ist einfach und praxisbezogen. Das ist später ein Riesenvorteil für die Jugendlichen“, weiß Ender. Gymnasiasten müssten einmal in ihrer Schullaufbahn ein Pflichtpraktikum absolvieren – alles darüber hinaus beruhe auf freiwilligem Engagement. An der Mittelschule gibt es viel mehr Kontakte in die freie Wirtschaft. „Wir fördern die Kinder hier und finden die Stärken heraus, die sie im Berufsleben nutzen können.“ Eine individuelle Betreuung, wie sie sonst nirgends geboten wird – zumindest nicht kostenlos.
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In einigen Hauptfächern sind Förderstunden im Stundenplan integriert. Je nach ihrem Stand werden die Schüler in Gruppen eingeteilt und können an ihren Schwächen feilen. „Bei anderen Schulformen geben die Eltern viel Geld für Nachhilfe aus – an der Mittelschule ist sie ein fester Bestandteil des Vormittags“, sagt Ender.
Grundschul-Eltern fehlen Informationen: Eltern können nur beraten, nicht bestimmen
Vielen Eltern von Grundschülern fehlt Wissen über die Arbeit an der Mittelschule, glaubt Lehrerin Michaela Fuchs. „Sie sehen nur, dass es von den drei Optionen die schlechteste ist – und die wollen sie nicht.“ Dass für viele Kinder die Arbeitsweise dort ein sehr viel stabileres Lernumfeld bieten würde, „das kann ich den Eltern schon erklären – am Schluss weiß ich aber nicht, wie viel von meinen Erklärungen ankommt“. Und Chancen möchte keine Lehrkraft ihren Schülern verbauen.
Übertrittsquoten haben sich verändert: Viel mehr Kinder gehen auf Gymnasium und Realschule
„Wir können beraten, nicht bestimmen.“ In den vergangenen 25 Jahren hätten sich die Übertrittsquoten und auch der damit verbundene Druck „schon sehr stark verändert“. Einige Eltern, deren Kinder nicht auf Anhieb den Sprung auf die Realschule schaffen, würden die Viertklässler zum Probeunterricht schicken, quasi zur zweiten Chance nach dem Übertrittszeugnis. „Den Weg von der Realschule zurück auf die Mittelschule gibt es immer wieder“, sagt die Grundschullehrerin aus Wolfratshausen.
Es gibt aber auch den anderen Weg. „Viele, die als Jugendliche bei uns ihren Abschluss machen, starten danach richtig durch“, weiß Lisa Ender. „Die sind richtig gut in ihren Ausbildungen, einige machen ihren Meister, manche holen noch andere Abschlüsse nach.“ Sie wirbt gegen das Image als Endstation. „Die Mittelschule bietet vieles, was die anderen Schulen nicht haben – und viele Möglichkeiten, wie es danach weitergehen kann.“