„Werden auch uns gehören“: Putins Top-Propagandist nimmt zwei Nato-Hauptstädte ins Visier

  1. Startseite
  2. Politik

KommentareDrucken

Putins propagandistisches Fallbeil – der russische Moderator Wladimir Solowjow: Er erklärt aktuell Kiew „zur Mutter aller russischen Städte“ und Helsinki sowie Warschau ebenfalls als zu Russland gehörend. (Archivfoto) © Peter Kovalev/Imago

Helsinki und Warschau seien russische Städte, Kiew ohnehin. Putin-Propagandist Solowjow erklärt den Ukraine-Krieg. Inhaltlich absurd, dafür sehr laut.

Moskau – „Wie will Putin eine prorussische Regierung installieren, wo fast alle Ukrainer Putin und die Russen nach diesem Krieg hassen?“, fragt Sönke Neitzel. Der in Potsdam lehrende Militärhistoriker hat diesen Gedanken bereits wenige Tage nach Ausbruch des Ukraine-Krieges auf Phoenix gewälzt und eingestehen müssen, dass das Rätselraten der westlichen Logik geschuldet sei. „Aber offensichtlich hat Putin eine eigene Logik und denkt in längeren Linien“, sagte Neitzel.

Einen Hinweis darauf könnte liefern, was jetzt Wladimir Solowjow öffentlich geäußert hat: Kiew sei „die Mutter aller russischen Städte“. Historisch betrachtet seien auch Helsinki und Warschau russische Städte, verkündete Wladimir Putins Propagandist auf dem staatlichen russischen Sender Russia 1. und meint offen: Sie werden „auch uns gehören“. Der ehemalige stellvertretende ukrainische Innenminister Anton Gerashchenko postete den TV-Ausschnitt auf seinem X-Kanal (vormals Twitter).

Nato-Städte Warschau und Helsinki von Russland beansprucht

Putin stünde mit dem Rücken an der Wand, glaubte Historiker Neitzel von Beginn des Ukraine-Krieges an. Auf Phoenix äußerte er: „Er kann ja nicht sagen ‚Sorry, ich habe mich geirrt, war ja nicht so gemeint‘, sondern er muss diesen Krieg durchfechten.“ Solowjow ist seit rund zehn Jahren Moderator der Talkshow „Sonntagabend mit Wladimir Solowjow“ im Staatsfernsehen Russlands und gilt seit dem Beginn des Ukraine-Krieges neben dem stellvertretenden Vorsitzenden des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Dmitri Medwedew, als Megafon von Wladimir Putins imperialistischer Politik. 

„Wir müssen immer nett Richtung Moskau winken. Gleichzeitig sind wir EU-Mitglied und müssen nach deren Regeln spielen.“

Mit 1340 Kilometern wird die Grenze zwischen der Russischen Föderation und Finnland angegeben. Seit dem vergangenen Jahr ist sie gleichzeitig die Grenze zwischen Russland und der Nato. Wladimir Putin hatte mit der Invasion des Territoriums der „Ukronazis“, wie Solowjow gesagt hat, die bis dahin neutralen Skandinavier in die Arme des westlichen Verteidigungsbündnisses getrieben. Die Schlagzeile „An der Grenze zur Furcht“, mit der die taz im Juni herausgekommen war, mag nämlich nach zweieinhalb Jahren Krieg und ständig schrilleren Drohungen aus Moskau gegen den Westen an Wahrheit gewonnen haben.

Verwunderter Finne: überrascht von Putins falscher Einschätzung der Lage

Mit dem Finnen „Eino“ hat die taz einen Veteranen des Winterkriegs zwischen Russland und Finnland aufgetan: „Die Ereignisse in der Ukraine erscheinen ihm als Déjà-vu. Wie heute die Ukraine war auch Finnland 1939 erst kurze Zeit unabhängig von Moskau geworden. Kaum jemand rechnete mit einem Krieg.“ Am meisten überrascht „Eino“, wie schwach die Russen heute in der Ukraine auftreten und wie falsch deren Präsident Putin die Lage eingeschätzt hat. „Er ist verrückt“, befindet der 104-Jährige über den russischen Präsidenten. „Er bringt seine eigenen Soldaten um.“ Auch das Spektrum der Wissenschaft weist auf Parallelen zwischen dem Ukraine- und dem Winterkrieg hin.

„Der Krieg, der bekannt vorkommt“, schreibt Maximilian Zech. Und die Neue Zürcher Zeitung sieht Russland in der Geschichte Finnlands auch als steten „formierenden Faktor“. Das neutrale Land hat sich dauerhaft im Spagat befunden zwischen den Machtblöcken und versucht, eine eigene Identität zu entwickeln. „Wir müssen immer nett Richtung Moskau winken. Gleichzeitig sind wir EU-Mitglied und müssen nach deren Regeln spielen“, sagte 2018 Arto Luukkanen gegenüber dem Deutschlandfunk. Der Historiker bezeichnet die Abwehr russischer Annäherungsversuche als „großes Ringen um die finnische Seele“ – Helsinki ist insofern bedeutend, als dort 1975 die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) zwischen den Blöcken unterzeichnet wurde. In der finnischen Hauptstadt Helsinki wurde somit die Entspannungspolitik der 1960er-Jahre paraphiert.

Panische Polen: Russlands „Befreiung“ betrachten sie als Terror

Immerhin steht immer noch ein Russe felsenfest und kerzengerade im Herzen Helsinkis: Zar Alexander II. Der Zar Alexander I und er sollen Helsinki im 19. Jahrhundert zur Blüte verholfen haben – beispielsweise durch das Anlegen öffentlicher Plätze und dem Bau von Bibliotheken. Später wäre der Zar schon vom Sockel gestürzt worden aufgrund der immer wieder aufflammenden Autonomiebestrebungen gegenüber Russland, die eben bis heute das Territorium der Skandinavier als ihr ureigenes Protektorat sehen mögen – die anfängliche Anlehnung der Finnen an das nationalsozialistische Deutsche Reich passt in die Rhetorik Putins. Und seines Sprachrohrs Solowjow.

Ähnlich argumentieren offizielle Stellen Russlands in ihrem Verhältnis zu Polens Hauptstadt Warschau – und stoßen dabei auf geharnischte Kritik aus Polen selbst: Am 17. Januar 1945 marschierte die Rote Armee in die polnische Hauptstadt ein. Die russische Botschaft in Deutschland huldigt diesem Datum als eines der Befreiung: „Heute nennt die polnische Regierung die Befreiung Polens durch die sowjetischen Truppen ‚neue Besatzung‘ und versucht, das Vorgehen von Nazideutschland mit den Handlungen der Sowjetunion auf die gleiche Stufe zu stellen. Aber aus der Geschichte sind fast 580.000 sowjetische Soldaten und Offiziere der Roten Armee nicht wegzudenken, die 1944/45 ihr Leben geopfert hatten, damit die Polen einen eigenen Staat bilden konnten“, publiziert sie auf ihrer Website.

Die Polen selbst gedenken dieses Tages unter anderen Vorzeichen, wie Anfang vergangenen Jahres Radio Poland berichtet hat: „In Wirklichkeit kam mit der sogenannten ‚Befreiung‘ der russische Terror“, schreiben dessen Autoren. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine im Jahr 2022 war ein Schock für Polen, laut Fachleuten aber ein erwarteter. Seit 30 Jahren bereitet sich Warschaus Ostpolitik auf eine mögliche territoriale Aggression Moskaus vor und versucht, diese abzuschrecken. Polen hat Angst, wie der Publizist Janusz A. Majcherek im deutsch-polnischen Magazin Dialog schreibt: Die polnische Einstellung zu Russland und den Russen bildete sich infolge der jüngeren Geschichte, die seiner Meinung nach als eine ständige, aggressive Expansion Russlands auf Kosten Polens verlief. 

Unbeugsame Ukrainer: Putin gefangen in seiner kompromisslosen Innenpolitik

Vor allem in Bezug auf Kiew hat Putin seine ureigene Interpretation geschichtlicher Entwicklungen: „Die ukrainische Bevölkerung ist das eine und die ukrainische Führung das andere“, schreibt Konstantin Eggert. Laut dem Korrespondenten der Deutschen Welle hat Putin in der Regierung der Ukraine den Westen die Fäden ziehen sehen. Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) sieht darin auch die alleinige Essenz von Putins Masterplan des Ukraine-Krieges: Die Annexion der Krim hält er für eine Kurzschlussreaktion auf die Absetzung von Russlands Vasall in Kiew, Wiktor Janukowytsch, in Verbindung mit der Angst, eine pro-westliche Regierung in Kiew könnte die Schwarzmeer-Flotte zu Gunsten von Nato-Schiffen aus Sewastopol vertreiben.

Meister sieht Putin in einer politischen Zange, die einen Wladimir Solowjow braucht, um rhetorisch frisches Öl ins Feuer zu gießen. Der russische Diktator hat sich, laut Meister, verstolpert in seiner „ideologisch aufgeladenen Innenpolitik“, die ihm einen geringen Handlungsspielraum aufzwingt. Gleichzeitig zeigt sich die Führung der Ukraine extrem kompromisslos in ihren Handlungen, und Präsident Wladimir Selenskyj gilt als diplomatische Ikone. Die Retoure der eigentlich ursprünglichen russischen Metropolen Helsinki und Warschau passt also ins Bild der „Spezialoperation gegen den westlichen Faschismus“ nach Moskauer Lesart – der eben gänzlich zu unterscheiden ist von einem umfassenden Krieg mit dem ukrainischen „Brudervolk“ – so die These von Meister, die von russischer Seite an jedem Tag des Krieges mit immer lauterer Rhetorik gestützt werden muss.

„Alles hätte besser funktioniert, wenn der Coup in den ersten 48 Stunden geklappt hätte“, sagt Historiker Neitzel: „Wenn die russischen Streitkräfte nach Kiew marschiert wären und die ukrainische Armee auseinandergefallen, dann hätte man von einer Spezialoperation sprechen können“, erklärte er zu Beginn des Krieges auf Phoenix. „Man hätte Tatsachen geschaffen und wäre dem Westen wieder freundlich gegenübergetreten. Diese Strategie ist nun zerfallen – und was sollte das Argument für diesen Krieg jetzt sonst sein?“ (Karsten Hinzmann)

Auch interessant

Kommentare

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

wir erweitern den Kommentarbereich um viele neue Funktionen. Während des Umbaus ist der Kommentarbereich leider vorübergehend geschlossen. Aber keine Sorge: In Kürze geht es wieder los – mit mehr Komfort und spannenden Diskussionen. Sie können sich aber jetzt schon auf unserer Seite mit unserem Login-Service USER.ID kostenlos registrieren, um demnächst die neue Kommentarfunktion zu nutzen.

Bis dahin bitten wir um etwas Geduld.
Danke für Ihr Verständnis!