Im Rahmen einer Abschlussarbeit hat Niklas Zagler aus Hallbergmoos ein Kochbuch für Legastheniker mit 28 Rezepten und 112 Seiten erstellt. Auch er selbst hat eine Lese- und Rechtschreibstörung.
Legasthenie: Jeder hat den Begriff schon einmal gehört. Doch was sich hinter der Lese- und Rechtschreibstörung verbirgt und vor welche Probleme sie Betroffene stellt, können sich die Wenigsten vorstellen. Laut dem Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie sind etwa zehn bis zwölf Prozent aller Menschen von Legasthenie betroffen – in Deutschland also etwa 3,5 Millionen. In Bayern gelten etwa 10 000 Schülerinnen und Schüler als Legastheniker. Einer davon ist Niklas Zagler (14) aus Hallbergmoos. In seiner Montessori-Arbeit zum Abschluss der achten Klasse hat der Teenager ein Kochbuch geschrieben und mit dem 112 Seiten umfassenden Bildband ein beeindruckendes Zeugnis abgelegt, dass Legasthenie zwar eine Hürde, aber kein unüberwindbares Hindernis darstellt. Sein großes Vorbild ist Starkoch Jamie Oliver, der mehr als 50 Millionen Kochbücher verkauft hat – und auch Legastheniker ist.
Niklas, wie bist Du auf die Idee gekommen, ein Kochbuch herauszubringen?
Ich wollte früher Koch werden und habe schon in vielen Küchen Praktika gemacht. Im Neuwirt in Hallbergmoos, im Daimerwirt und der Metzgerei Lobermeier in Moosinning. In der achten Klasse müssen sich alle Schüler an meiner Schule einem selbst gewählten Thema widmen und dazu einen theoretischen und einen praktischen Teil erarbeiten. Mein Vater hat mir dann den Vorschlag gemacht: Mach doch ein Kochbuch für Legastheniker.
Eine gute Idee?
Ja. Erst kam mir der Gedanke, mit QR-Codes und Videos zu arbeiten. Aber das wäre ein zu großer Aufwand gewesen. Dann hatte ich überlegt, für meine Montessori-Arbeit doch lieber etwas mit Zauberei zu machen. Aber die Idee mit dem Kochbuch ist mir dann nicht mehr aus dem Kopf gegangen – und ich habe wieder umgeswitcht. Weil es besser umsetzbar war, habe ich mir Schritt-für-Schritt-Anleitungen mithilfe von Fotos überlegt.
Woher stammen die Rezepte?
Die meisten stammen von meinem Eishockey-Team, der U 15 der Black Bears Freising. Ich habe sie einfach nach ihren Lieblingsrezepten gefragt. Meine Familie hat auch noch etwas beigesteuert. So sind es am Ende 28 Rezepte auf 112 Seiten geworden – von Kaiserschmarrn bis Kaspressknödel. Der Buchtitel lautet „Time Out – ich habe Hunger“. Auf dem Titelbild sieht man mich beim Eishockey-Spiel in Trostberg. Nach den Spielen haben mein Team und ich immer viel Hunger.
Du bist Legastheniker. Das heißt: Dir fällt das Lesen von Rezepten schwer. Wie bist du an die Sache rangegangen?
Meine Freunde haben mir die Rezepte geschickt, ich bin sie dann Schritt für Schritt durchgegangen. Meine Mutter hat mir teilweise die Anleitung übersetzt.
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Wie lange hast Du für das Kochbuch gebraucht?
Für die Rezepte habe ich 32 Stunden gebraucht. Mit Bildern noch länger. Die Fotos habe ich mit dem Handy gemacht, davor noch die Firmen-Etiketten der Zutaten abgeklebt. Insgesamt kann man von ungefähr einer Woche reiner Arbeitszeit sprechen, wenn man mal annimmt, ich hätte 24 Stunden am Tag gearbeitet. Ich habe mir am Anfang der achten Klasse das Thema überlegt und angefangen. Präsentiert habe ich das Kochbuch dann als Abschlussarbeit – man sagt dazu große Monte-Arbeit – vor 180 Menschen. Ich war gar nicht so nervös. Ich denke, weil ich das alles durchlebt habe.
Was ist Dein Lieblingsrezept?
Ich mag am liebsten Depskombera – ein Familienrezept unseres Torwarts mit Hackfleisch, Wammerl und Kartoffeln. Rigatoni al Forno mag meine Mutter am liebsten.
Das Buch ist richtig professionell aufgemacht. Wie hast Du das geschafft?
Ich habe mir ein professionelles Grafik-Programm (InDesign), das mir meine Eltern netterweise gekauft haben, über Internet-Videos selbst beigebracht.
Wie ging’s Dir in der Schule mit der Legasthenie?
Niklas: Es wurde in der Grundschule sehr schnell klar, dass ich Legasthenie habe. In der zweiten Klasse war das.
Angela Zagler: Wir haben es schon in der ersten Klasse gemerkt, dass Niklas furchtbar lange gebraucht hat, Buchstaben wiederzuerkennen. Wir haben eine große Tochter und gesehen, dass bei Niklas da etwas anders ist. Die Schule testet aber erst sehr spät. Für uns war es ein Alptraum, wenn Niklas eine Lesehausaufgabe hatte. Da wussten wir, dass wir den ganzen Nachmittag dran sitzen. Ich war damals noch nicht so in dem Thema drin und habe gesagt, er muss die Hausaufgabe machen. Im Nachhinein hätten wir damals sagen müssen, wir brechen das hier jetzt ab. Wir sind dann in der zweiten Klasse selbst mit Niklas bei einer Psychologin zur LRS-Testung gegangen. Die Psychologin sagte uns, wenn so früh Auffälligkeiten erkennbar sind, ist es meistens eine angeborene Legasthenie.
Wie muss man sich das vorstellen?
Niklas: (zeigt Beispielbilder) Ich werde durch die Anstrengung beim Lesen sehr schnell müde.
Angela Zagler: Wir haben Niklas oft gefragt, wie er die Buchstaben sieht. Aber es ist natürlich für ihn schwer, es zu beschreiben, weil er ja nur dieses eine Bild hat. Das verschwommene Bild war das erste Mal, wo Niklas uns sagen konnte: So ähnlich sehe ich das.
„Betroffene sind genauso klug und talentiert wie andere Menschen“
Wie äußert sich Legasthenie? Schüler vertauschen beispielsweise Buchstaben und Wörter. Sie leiden häufiger unter Schulangst. Menschen mit Legasthenie sind ein Leben lang davon betroffen. Allerdings lässt sich die Lese-Rechtschreibstörung mit geeigneten Therapien mildern. Legasthenie hat nichts mit geringer Intelligenz oder Faulheit zu tun. Und doch haben Betroffene immer noch gegen dieses Stigma zu kämpfen. Niklas und seiner Mutter Angela Zagler sind bewusst den Schritt in die Öffentlichkeit gegangen, um gegen solche Vorurteile anzugehen – und Betroffenen Mut zu machen. Nach einer „stressigen“ Grundschulzeit hat Niklas in der Montessori-Schule in Aufkirchen einen Platz gefunden, wo er individuell gefördert und gefordert wird. Niklas vergleicht in seiner Montessori-Arbeit zur Veranschaulichung von Legasthenie das Gehirn mit einem Schrank mit vielen Schubladen, die durcheinandergeraten sind: „Wenn Betroffene beispielsweise das Wort Katze suchen, müssen sie erst in verschiedenen Schubladen kramen, bis sie es finden.“ Er unterstreicht: „Aber das Wichtige zu verstehen ist, dass sie genauso klug und talentiert sind wie andere Menschen. Sie müssen nur vielleicht auf etwas andere Weise lernen und arbeiten, um ihre Ziele zu erreichen.“ Bei diesen Zeilen hat er sich von ChatGPT helfen lassen. „Normal Lesende machen sich keine Gedanken, welche Einschränkungen Legasthenie im Alltag nach sich zieht. Nicht nur beim Lesen und Schreiben, auch bei der Orientierung. Straßenschilder zu lesen, Fahrpläne oder die Abfahrtszeiten der S-Bahn. Das alles ist enorm schwierig“, verdeutlicht Angela Zagler die Alltagsprobleme ihres Sohnes. Niklas habe inzwischen Strategien entwickelt, mit dem Handicap umzugehen.
Was hat sich durch den Test bzw. die Anerkennung der Legasthenie geändert?
Niklas: Bei Proben wurde mir dann vorgelesen. Das war aber auch schwierig, weil die Lehrerin mir aus Zeitmangel oft die ganze Probe auf einmal vorgelesen hat. In der vierten Klasse wurde es dann leichter für mich, als ich auf die Montessori-Schule gewechselt bin. Da hatten die Lehrer mehr Zeit und ich konnte die Freiarbeit nutzen.
Angela Zagler: Niklas war von seiner bisherigen Schullaufbahn so gestresst, dass ihn die Montessori-Schule erst einmal komplett in Ruhe gelassen hat. So konnte er sich und seinen Takt wiederfinden. Er hat in dieser ersten Phase viel Schach gespielt in der Schule.
Wie ist es mit dem Schreiben?
Beim Schreiben tu ich mir auch schwer. Ich schreibe so wie ich spreche. Bei Proben durfte ich in der Grundschule der Lehrerin nicht diktieren, ich musst schon selbst schreiben. Da ich eine auditive Wahrnehmungsstörung habe, kann ich beispielsweise keinen Unterschied zwischen b und p hören.
Das klingt doppelt schwer.
Ja, aber der Vorteil ist, dass es auf der Montessori-Schule alles in allem nicht so viele Tests gibt.
Kennst Du noch andere Kinder bzw. Jugendliche, die Legasthenie haben?
Niklas: Ja, in meiner Klasse gibt es noch vier andere Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibstörung.
Angela Zagler: Die Lehrerin, die Niklas zuletzt unterrichtet hat, sagte uns, dass sie noch keinen so schweren Fall von Legasthenie hatte. Aber sie hat neue Wege gesucht, wie sie Niklas unterstützen kann. Beispielsweise mit Videos, die den Stoff vermittelt haben und Niklas dadurch längere Lesetexte erspart blieben. Das Prinzip der Montessori-Schule baut ja darauf auf, dass jedes Kind individuell so lernen soll, wie es am besten ist. Allerdings haben selbst die Lehrer Schwierigkeiten gehabt, geschriebene Texte von Niklas zu lesen. Er schreibt Wörter wirklich genauso, wie er sie hört. Ich kann es ganz gut entziffern, aber manchmal muss Niklas helfen.
Würde es Dir helfen, mit Computer und Tastatur zu schreiben?
Niklas: Zumindest könnten andere das besser lesen. Für mich wäre es nicht wirklich einfacher.
Angela Zagler: Selbst die Autokorrektur kann die Worte, die Niklas tippt, teilweise nicht erkennen, oder es werden komplett andere Worte erstellt.
Deine eigene Präsentation konntest du vermutlich auch nicht lesen?
Niklas: Stimmt. Ich habe das meiste auswendig gelernt. Hat aber keiner bemerkt. Es gab viel Applaus und die Eintrittskarte in die neunte Klasse.
Angela Zagler: Es ist richtig ergreifend, wie wertschätzend die Kinder miteinander umgehen. Das zeichnet die Montessori-Schule aus.
Hast Du schon Pläne, wie es nach der Schule weitergeht? Vielleicht eine Lehre als Koch? Oder ein zweites Kochbuch?
Ich könnte mir auch vorstellen, eine Ausbildung zum Zweirad-Mechatroniker zu machen. Ich bin nach einem Praktikum ganz begeistert. Aber erst mal kommt die neunte Klasse.