Wegen Trump und Putin: EU muss für Verteidigung „klotzen statt kleckern“

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Spätestens seit der Münchener Sicherheitskonferenz ist klar: Europa steht vor enormen geopolitischen Herausforderungen. Welche Lösungen sind in Sicht?

Straßburg – Die Rede des US-amerikanischen Vizepräsidenten JD Vance auf der Münchener Sicherheitskonferenz und die Verhandlungen zwischen Russland und den USA über einen Frieden im Ukraine-Krieg haben gezeigt: Europa muss sich zunehmend alleine um seine Sicherheit kümmern. Das transatlantische Verhältnis und die europäische Sicherheitsarchitektur sind gefährdet – wenn nicht sogar zerstört. Wie die EU nun reagieren kann, erklärte Tobias Cremer (SPD) im exklusiven IPPEN.MEDIA-Interview. Der EU-Abgeordnete sitzt unter anderem im Ausschuss für Sicherheit und Verteidigung und ist Mitglied der Delegation für die Beziehungen zur Parlamentarischen Versammlung der Nato.

Vor Kurzem fand ein für die Zukunft der europäischen Verteidigung wichtiger informeller Gipfel statt. Wenn man danach im Internet sucht, finden sich kaum Artikel oder Stellungnahmen von Parteien oder Politikern. Ist dieses geringe Interesse angemessen – mit Blick auf die Bedeutung und die aktuelle Bedrohungslage?

Ich glaube nicht, dass das Interesse gering war. Das Format war als informelles Treffen angelegt, damit die Teilnehmer ohne öffentlichen Druck unter sich freisprechen konnten. Diese Form der Kommunikation ist uns in der Politik und Öffentlichkeit etwas verloren gegangen. Bei sehr wichtigen Themen, die viele Beteiligte besprechen müssen, brauchen wir diese Freiheit. So können Politiker kontroverse Ideen diskutieren, die ohne öffentliches Aufsehen auch mal zurückgenommen werden können. Es geht um einen geschützten Raum für Gedankenspiele. Nun hoffe ich, dass die Anwesenden diese Möglichkeit für gute Idee genutzt haben.

Wegen Putin und Trump: EU ändert Rhetorik

Aus diesem Grund gab es keine öffentliche Abschlusserklärung. Man hört in EU-Diplomatenkreisen, dass sich die Staaten auf mehr Geld für folgenden Bereiche geeinigt hätten: Luft- und Seeverteidigung, militärische Mobilität, Cyberabwehr und einen Fokus auf Drohnenentwicklung und -produktion. Sehen Sie hier auch den größten Investitionsbedarf?

Diese Aussagen sind spekulativ. Wir wissen nicht, worüber tatsächlich gesprochen wurde. Allgemein lässt sich sagen: Diese Prioritäten klingen vernünftig. Gleichzeitig gibt es nach der Münchener Sicherheitskonferenz und Trumps Verhandlungen mit Putin eine neue Dringlichkeit. Die Amerikaner verhandeln gerade direkt mit Russland über die Zukunft der Ukraine und Europas, aber ohne die Ukraine oder Europa am Tisch zu haben. Das ist nicht nur unvernünftig, sondern gefährlich. Die Zeit der Weckrufe ist jetzt endgültig vorbei. Europa muss jetzt schnell und geschlossen handeln und seinen Platz in den Verhandlungen selbstbewusst behaupten. Dazu müssen wir aber auch etwas an den Tisch bringen. Und genau hier ist die EU gefragt.

Wie kann das aussehen?

Neben akuten Dingen wie Sicherheitsgarantien stehen dabei mittelfristig zwei Fragen im Vordergrund: Welche Fähigkeiten benötigen die europäischen Nato-Staaten, um die Ukraine langfristig unterstützen zu können und gleichzeitig gegenüber Russland abschreckungsfähig zu bleiben. Und wie kann die Union beim Aufbau der dazu nötigen Verteidigungsindustrie komplementär unterstützen?

Das sind ja keine neuen Fragen oder Erkenntnisse.

In einem Punkt schon. Auf dem Gipfel hat der EU-Ratspräsident Antonio Coasta gesagt: Es geht nicht mehr darum, ob wir uns gegen äußere Bedrohung wie Wladimir Putin verteidigen – sondern: wie? Diese rhetorische Klarstellung ist ein wichtiger Schritt und für mich die bedeutende Nachricht des Treffens.

Sollten weitere Verteidigungsbereiche stärker priorisiert werden?

Letztlich entscheiden die Mitgliedsstaaten darüber, welche Militärgüter sie beschaffen wollen. Die EU kann vor allem bei dem Aufbau einer europäischen Verteidigungsindustrie sowie bei der militärischen Mobilität unterstützen. Dort hat Europa besonders großen Nachholbedarf, wie der letzte Aktionsplan gezeigt hat.

EU-Abgeordneter Cremer: Deutsche Brücken müssen Panzern standhalten

Militärische Mobilität heißt übersetzt: Wenn Panzer auf deutsche Brücken fahren, sollten diese nicht einstürzen?

Genau. Ihr Beispiel war tatsächlich ein großes Problem, als zum Beispiel die deutsche Brigade nach Litauen verlegt wurde. Militärische Konvois mussten oft große Umwege fahren, weil die Brücken die Last nicht getragen hätten und weil Eisenbahnlinien nicht funktionierten. Das ist sehr problematisch. Mit dem Ende des Kalten Krieges haben wir in die Infrastruktur viel zu wenig Geld investiert. Wir haben gehofft, dass wir diese Strecken nicht mehr militärisch nutzen müssen. Leider hat uns Putin einen gewaltigen Strich durch die Rechnung gemacht. Es zeigt aber gleichzeitig, dass wir insgesamt ein Investitionsproblem in Europa und insbesondere in Deutschland haben. Wir müssen die notwendigen höheren Verteidigungsausgaben deswegen unbedingt in eine größere Investitionsagenda in unsere Infrastruktur, Forschung und Wettbewerbsfähigkeit einbetten. Verteidigungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit gehen hier Hand in Hand.

Tobias Cremer
Tobias Cremer sitzt unter anderem im EU-Ausschuss für Sicherheit und Verteidigung. © EU

Es ist doch nicht nur wichtig, welche Güter die Nato braucht – sondern: Wo diese produziert werden sollten. Beispielsweise direkt in der Ukraine, wo sie zurzeit am dringendsten erforderlich sind.

In diesem Bereich passiert schon relativ viel und ich möchte, dass noch viel mehr geschieht. Allerdings leben wir nicht in einer Planwirtschaft. Die EU kann Unternehmen nicht herumkommandieren und vorschreiben, wo und was sie produzieren sollen. Stattdessen muss sie die richtigen Rahmenbedingungen schaffen. Das tun wir zum Beispiel durch die Schaffung eines europäischen Binnenmarkts der Verteidigung oder durch Fortschritte bei der Bankenunion in Europa, damit auch Zulieferer aus dem Mittelständler- oder Start-up-Bereichen die Kredite bekommen, die sie brauchen. Gleichzeitig kann die EU auch durch Zuschüsse gemeinsame Beschaffungsprojekte unterstützen und damit Anreize für die Mitgliedsstaaten schaffen – mit dem Ziel: Rüstungsgüter häufiger gemeinsam – und damit kostengünstiger – zu kaufen. Viele europäische Rüstungsunternehmen werden immer aktiver: Sei es in der Drohnen-Herstellung oder der Wartung von Panzern - auch direkt vor Ort in der Ukraine.

EU-Verteidigung: Woher soll das Geld kommen?

Aber da geht doch noch deutlich mehr. Investitionen in die Infrastruktur haben den großen Vorteil, dass der Westen die Ukraine bei der Selbstbefähigung unterstützt. Umgekehrt profitiert die Nato von ukrainischen Gütern, die aus Kampferfahrungen für die moderne Kriegsführung hergestellt wurden. Daher investieren skandinavische Länder ihre Ukraine-Hilfen teilweise direkt in den militärisch-industriellen Komplex in der Ukraine. Ende 2024 bestellte Dänemark zudem als erstes Land in der Ukraine produziertes Militärgerät – für die Ukraine.

Auch in diesem Bereich hat der Westen viel investiert – häufig mit Deutschland in der Führungsrolle. Auf vielen Ukraine-Konferenzen haben wir zahlreiche Unterstützungen, vor allem für den Wiederaufbau der Infrastruktur, beschlossen. Auch die Energie-Infrastruktur spielt hier eine entscheidende Rolle. Wir dürfen eben nicht nur an den Panzer denken, sondern an alles, was dahintersteht.

Ein getarnter Soldat hält ein Gewehr in seinen Händen.
Ein französischer Fallschirmjäger steht auf einem Truppenübungsplatz in Smardan, Ostrumänien am Ende der Übung Steadfast Dart 2025. © Vadim Ghirda/dpa

Laut EU-Kommission müssen die europäischen Staaten in den nächsten zehn Jahren mindestens 500 Milliarden Euro in die Verteidigung investieren, um die eigenen Ziele zu erreichen. Derzeit sind für die Jahre 2021 bis 2027 nur acht Milliarden im EU-Haushalt vorgesehen. Woher soll das Geld kommen?

Das ist die größte Schwierigkeit. Wir müssen alle alten Konzepte überdenken und notfalls verwerfen. Durch die russische Bedrohung leben wir in einer geopolitischen Zeitenwende. In der Weltpolitik entwickeln wir uns von einer unipolaren Ordnung zu einer multipolaren. Gleichzeitig hat Amerika in München klargemacht: Es wird für Europa nicht mehr die Kohlen aus dem Feuer holen. Deswegen brauchen wir eine starke und handlungsfähige EU, die alle Projekte zur Verteidigung seiner Bevölkerung finanzieren muss. Daran führt kein Weg vorbei. Sicherheit ist nicht alles, aber ohne Sicherheit ist alles andere nichts. Deswegen halte ich die Diskussionen in Deutschland über eine Reform der Schuldenbremse genauso für richtig wie den Vorschlag des Bundeskanzlers, die Maastricht-Kriterien an die neue Sicherheitslage anzupassen.

Warum?

Damit können wir Ländern, die mehr als zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgeben, weitere Investitionen möglich machen. Denn uns muss doch klar sein: Egal, ob wir am Ende zwei, drei oder mehr Prozent des Bruttoinlandsproduktes für unsere Verteidigung ausgeben müssen: Wir brauchen viel mehr Geld. Diese enorme Summe können wir nicht einfach in anderen Haushaltsbereichen einsparen. Wir müssen neue Schulden aufnehmen, und zwar auf nationaler als auf europäischer Ebene. Wenn das Haus brennt, hilft es nicht an der Wasserrechnung zu sparen – da müssen wir klotzen und nicht kleckern.

EU-Sicherheitsexperte spricht sich für neue Kredite aus

Ihr SPD-Kanzler Olaf Scholz lehnt Eurobonds ab.

Die Mitgliedsstaaten werden den Großteil der Finanzierung tragen. Daher halte ich es zunächst für effektiver, wenn wir ihnen erlauben, verstärkt neue Investitionskredite aufzunehmen, indem wir die Maastricht-Kriterien reformieren. Das hätte kurzfristig eine höhere Durchschlagskraft als Eurobonds, bei denen erstmal viele Fragen geklärt werden müssten, beispielsweise: Wie kauft man die gemeinsam? Langfristig ist die Diskussion um Verteidigungsbonds noch nicht vom Tisch – bei einer Notlage, wie wir sie aktuell erleben und dem ungeheuren Investitionsbedarf, den es in der Verteidigungspolitik gibt, sollten wir uns alle Hebel angucken.

Welche sind das?

Angesichts der Dringlichkeit der Situation bin ich aber dafür, sich zunächst auf einfache Mittel zu konzentrieren. Es gibt beispielsweise noch einfachere politische Hebel, um die Finanzierung der Verteidigungsproduktion zu erleichtern. Und diese betreffen nicht nur Staaten und große Unternehmen, sondern auch Mittelständler und Start-ups. In meiner Heimat gibt es zahlreiche mittelständische Zuliefererunternehmen, die gerne auch für die Rüstungsindustrie produzieren würden. Ihr Problem: Sobald sie das äußern, erhalten sie von Banken kaum Kredite. Hier kann die EU über die Europäische Investitionsbank Kredite stellen. Das hätte eine bedeutsame Signalwirkung. Die Politik muss das private Kapital für Verteidigungsinvestitionen mobilisieren. (Interview: Jan-Frederik Wendt)

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