Buch über hypothetischen Angriff: "Wären im Weltkrieg mit Russland": So könnte US-Präsident im Narwa-Szenario reagieren

Seattle, 26. März 2028: Die Nachricht

Es ist gegen 18:00 Uhr Ortszeit am 26. März 2028 (27. März, 3:00 Uhr morgens MEZ), als der amerikanische Präsident, der sich auf der Jahresversammlung der amerikanischen Elektrizitätsanbieter in einem Tagungshotel in Seattle befindet, von seinem persönlichen Assistenten das Kryptohandy gereicht bekommt.

"Mister President, der Direktor der CIA." Sofort zieht er sich in einen hinteren Winkel des Foyers zurück, umringt von seinen Beratern, um das Gespräch zu führen.

"Was ist so dringend, dass sie mich auf dieser Leitung anrufen?", fragt er.

"Mister President, wir haben Satellitenaufnahmen und auch visuelle Bestätigung vor Ort, dass sich kleinere russische Verbände auf dem Weg nach Narwa befinden sowie einige Schnellboote den Fluss überqueren. Auch haben wir Funksprüche der baltischen Flotte abgefangen, die von einer mittelgroßen Operation sprechen, die in Bälde beginnen soll. Unsere Analysten sind sich jedoch nicht sicher, mit welchem Ziel und aus welcher Richtung."

"Sind der Verteidigungsminister und der Außenminister bereits informiert?"

"Nein, Sir", antwortet der CIA-Direktor.

"Dann informieren sie beide umgehend", lautet der kurz gehaltene Befehl des Präsidenten.

Nachdem er das Handy weggelegt hat, wendet er sich einem seiner Mitarbeiter zu und sagt knapp: "Ich muss mit dem deutschen Bundeskanzler, dem britischen Premier, dem französischen Präsidenten und dem NATO-Generalsekretär telefonieren. Stellen Sie mir umgehend eine gesicherte Verbindung her. Vorher jedoch brauche ich eine gesicherte Videokonferenz mit dem Außenminister, dem Verteidigungsminister, dem Joint Chief of Staff, dem Nationalen Sicherheitsberater und dem CIA-Direktor."

Die nächsten Stunden sind kritisch

Es dauert einige Zeit, bis der Präsident seine Besprechung mit seinem engsten Sicherheitsteam beginnen kann. Zunächst müssen sie alle in abhörsichere Räume gebracht werden, was sich beim Außenminister etwas schwierig gestaltet, da er sich zu einem Staatsbesuch in Chile aufhält und der einzige abhörsichere Raum, dem die CIA vertraut, sich in der US-Botschaft in Santiago befindet.

Der Präsident beginnt die Besprechung, indem er die Erkenntnisse der CIA wiedergibt, die inzwischen alle anderen auch erhalten haben. Danach stellt er den Anwesenden die Frage, wie deren Einschätzung der Lage sei.

Als erstes erteilt er seinem Nationalen Sicherheitsberater das Wort. Dieser räuspert sich und beginnt: "Wir haben es hier sehr wahrscheinlich mit einem begrenzten Angriff Russlands auf einen NATO-Mitgliedsstaat zu tun. Nichts deutet momentan darauf hin, dass es größere Truppenzusammenziehungen gibt, die auf eine umfangreiche Invasion schließen lassen. Allerdings", so ergänzt er, "wissen wir nicht, welche Überraschungen Russland noch bereithält. Insofern sind die nächsten Stunden kritisch."

"Wir wären in einem Krieg mit Russland?"

"Welche Optionen haben wir?", fragt der Präsident seinen Verteidigungsminister.

"Wir haben ungefähr 700 Mann in Estland, die wir zur Rückeroberung einsetzen könnten. Zusammen mit den 1700 NATO-Soldaten dürfte uns das gelingen, wenn Russland nicht massiv Truppen nachschiebt und vor allem nicht seine Luftwaffe und seine Raketen gegen uns einsetzt."

"Wenn wir das machen würden, Mr. President", schaltet sich der Joint Chief of Staff ungefragt in die Unterhaltung ein, "dann wäre das eine direkte militärische Konfrontation zwischen der Nato und Russland."

"Wir müssten dann", so führt er weiter aus, "entweder direkt mit unseren Marschflugkörpern Ziele in Russland zerstören, um eine Massierung von weiteren russischen Truppenteilen zu verhindern, oder aber Russland könnte seinerseits ballistische Raketen auf Ziele in Europa abfeuern."

"Wir wären in einem Krieg mit Russland? In einem Dritten Weltkrieg also?", hakt der Präsident nach.

"Ja, Sir", erwidert der oberste US-Militär, und alle auf dem Bildschirm Anwesenden nicken.

"Aber wenn wir gar nichts machen, Mr. President", mischt sich der Außenminister ein, "dann stehen wir als Verlierer dar. Die Glaubwürdigkeit Amerikas würde in den Augen unserer Verbündeten, nicht nur in Europa, sondern auch in Asien, sinken, und es würde die Achse der Revisionisten stärken."

"Welche Optionen bleiben uns denn?"

Der Außenminister hat in seinen letzten Reden immer wieder den Begriff "Achse der Revisionisten" benutzt, wenn er von der Verbindung zwischen Staaten wie Russland, China, Nordkorea und dem Iran sprach, denen er vorwarf, die von den USA dominierte internationale Ordnung zerstören zu wollen.

"Welche Optionen bleiben uns denn, unterhalb der Ebene einer direkten militärischen Reaktion?", blickt der Präsident fragend in die virtuelle Runde.

"Wenige", erwidert der Nationale Sicherheitsberater.

"Aber welche, will ich wissen?", lautet die sichtlich genervte Rückfrage.

"Nun ja", reißt sich der Getadelte zusammen. "Wir könnten die zweite Flotte in den Ostseeraum verlegen sowie die Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzen, um den Russen zu signalisieren, dass wir auf alles vorbereitet sind."

"Um aber zu vermeiden, dass Russland das alles als Vorbereitung zu einem umfassenden Angriff sieht", setzt der CIA-Chef umgehend nach, "müssen wir mit den Russen kommunizieren. Nichts ist in solch einer Situation gefährlicher als Fehlwahrnehmungen."

"Ich soll Obmantschikow (der fiktive russische Präsident, Anm. d. Red) anrufen? Ich habe ihn noch nicht einmal persönlich getroffen", fragt der Präsident verwundert in die Runde.

"Nein, Sir, Sie müssen es nicht persönlich machen, zumindest jetzt noch nicht", erwidert der Sicherheitsberater. "Es reicht, wenn wir es zunächst über andere Kanäle versuchen. Erst wenn dies keinen Erfolg hat, dann denke ich, dass Sie, Sir, den Hörer in die Hand nehmen müssen."

Die wichtigste Nachricht des US-Präsidenten ist klar

Der Präsident beendet die Video-Konferenz mit dem Auftrag, die diskutierten Optionen von den Streitkräften ausarbeiten zu lassen und sie dann, bevor sie implementiert werden, durch die Nutzung direkter Kommunikationskanäle in Richtung Moskau "abzufedern".

In zwei Stunden bereits ist die nächste Schalte mit den Staatsund Regierungschefs der wichtigsten Nato-Verbündeten sowie mit dem Generalsekretär der Allianz angesetzt.

Die wichtigste Nachricht, die er ihnen überbringen wird, ist für den Präsidenten klar. Er wird wegen einer estnischen Kleinstadt keinen Dritten Weltkrieg riskieren, sehr wohl ist er aber dazu bereit, Russland militärisch unter Druck zu setzen, seine Truppen abzuziehen.

Das neue Buch des Politikwissenschaftlers und Militärexperten Carlo Masala heißt: "Wenn Russland gewinnt. Ein Szenario" (C.H.Beck, 119 Seiten, 15 Euro, 2025). In ihm entwirft Masala ein hypothetisches Zukunftsszenario, in dem russische Truppen im März 2028 die estnische Kleinstadt Narwa und die Insel Hiiumaa in der Ostsee erobern.