Do-It-Yourself-Schützenpanzer: Putin verzockt das Leben seiner Panzergrenadiere

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Lebensgefährliche Notlösung: Rekruten auf einem T-62-Panzer – nach der Amputation des Turms können die Soldaten in dem entstandenen Krater leidlich geschützt ins Gefecht transportiert werden. (Symbolbild) © Vladimir Smirnov/Imago

Aus der Not geboren: Weil den Russen Transporter für ihre Soldaten fehlen, amputieren sie alte Kampfpanzer. Für die Grenadiere eine tödliche Lösung.

Awdijiwka – „Ein Panzer ist besser als kein Panzer“, schreibt „whatsitallabout“ – damit kommentiert der Leser des österreichischen Standard einen Bericht über „Frankenstein-Panzer“; alte T-62-Kampfpanzer aus Sowjetzeiten, den die Ukraine umgebaut und als Schützenpanzer genutzt hat, um ihre Soldaten geschützt in den Ukraine-Krieg zu transportieren. Die Verteidiger gegen die Invasionstruppen Wladimir Putins machten damit aus der Not eine Tugend.

„Ich denke, beide Seiten würden auch T-34 etc. nehmen, wenn sie in großer Stückzahl vorhanden sind und der Preis niedrig ist. Sofern du als Soldat keine große Panzerabwehr hast, ist auch ein Panzer aus 1945 einschüchternd“, schreibt „whatsitallabout“ weiter. Offenbar denkt sich das inzwischen auch die Führung der Armee Russlands.

„Da Russland keine Spezialkampffahrzeuge mehr hat, wird es kreativ ... und verzweifelt“, kommentiert das US-Magazin Forbes das aktuelle Handeln der russischen Armee, ihrerseits T-62 zu amputieren und ohne Turm als Schützenpanzer zurück an die Front zu schicken. Russlands Reihen an Schützenpanzern sind offenbar dermaßen ausgeblutet, dass alte Kampfpanzer auf neue Weise umfunktioniert werden: Alte Kampfpanzer aus dem Kalten Krieg kommen aus dem Lager und als Do-It-Yourself-Lösung wieder an die Front – das jedenfalls wollen Militärblogger im Raum Awdijiwka beobachtet haben.

Erzwungene Kreativität: Putin schickt seine Soldaten im Golfwagen ins Gefecht

Bei einem dieser Notlösungen handelte es sich um einen T-62-Panzer aus den 1960er-Jahren, dessen Turm entfernt war und in dessen 32-Tonnen-Wanne ein freier Raum blieb, in dem sich die Infanterie verstecken konnte. Bei dem anderen handelte es sich um ein 35 Tonnen schweres BTS-2-Pionierfahrzeug, das auf einem T-54-Panzer aus den 1950er-Jahren basierte und an dem offenbar Kran und Winde weichen mussten, um geschützten Platz für Grenadiere zu schaffen.

Beide Seiten sind erfinderisch. Die Ukraine hatte bereits einen T-62-Kampfpanzer mit dem Turm eines BMP-2 gekreuzt und damit einen Transportpanzer mit einer dickeren Panzerung als üblich, einer 30-Millimeter-Bordkanone und Raum für Soldaten in den Einsatz gebracht, wie Forbes berichtet hatte.

Allerdings ist die russische Invasionsarmee in wohl noch ärgeren materiellen Nöten als ihre Gegner und hat deshalb jetzt vergleichsweise günstig mobil gemacht: mit einem golfkartartigen Fahrzeug. Nachdem sie erst vereinzelt an der Front aufgetaucht waren, rücken sie jetzt wohl massenhaft an. Bereits im November gab Moskau bekannt, mehr als 2.000 Geländefahrzeuge „Desertcross 1000-3“ werde Russland von der chinesischen Firma Shandong Odes Industry besorgen. Einkaufspreis: weniger als 17.000 Euro pro Fahrzeug. Sowohl in Saporischschja im Süden als auch in Donezk, Luhansk und Charkiw im Osten sollen die verstärkten Golfwagen fast zeitgleich aufgetaucht sein.

Gigantischer Aderlass: Putin hat allein in diesem Jahr mehr als 7.500 Panzerfahrzeuge verloren

Für den Forbes-Militär-Journalisten David Axe ein klarer Fall von materiellen Auflösungserscheinungen der russischen Invasionsarmee: „Da Golfwagen zunehmend speziell angefertigte Schützenpanzer im russischen Dienst ersetzen, stellt das gelegentliche Selbstbauen von Schützenpanzern, die einige unternehmungslustige Techniker mit einem ausgemusterten Kampfpanzer angestellt haben, tatsächlich einen Fortschritt für die immer schäbiger werdende russische Armee in der Ukraine dar.“ Der Aderlass von Putins Truppen ist tatsächlich gigantisch: Allein von Februar 2024 an soll Russland nach übereinstimmenden Schätzungen verschiedener Medien mindestens 3.500 Schützenpanzer verloren haben, weit mehr als 1.000 gepanzerte Fahrzeuge und beinahe 3.000 Kampfpanzer.

Wie in den meisten militärischen Bewegungen ist Schnelligkeit in fast jeder militärischen Gefechtslage ein entscheidender Aspekt – dafür werden die motorisierten Schützen herangeführt; ihre Bezeichnung im Westen ist Panzergrenadier. Der Panzergrenadier geht auf den deutschen Panzergeneral Heinz Guderian zurück. Der sah für sie vor, mit einem speziellen gepanzerten Fahrzeug, dem Schützenpanzer, ausgerüstet zu werden, um sowohl auf- wie abgesessen kämpfen zu können. Ihre hauptsächliche Aufgabe bestand in der Unterstützung gepanzerter Verbände, also hauptsächlich dem Schutz und der Unterstützung von Kampfpanzern. In den Armeen des Ostens ist die Bezeichnung eine andere, ihre Aufgabe ist aber die gleiche.

„Panzergrenadiere sitzen auch unter Feuer ab. Dann geht die Heckklappe auf und man steht mitten im Gefecht.“

Die Golfwagen scheinen tatsächlich fast das letzte Aufgebot zu sein; Russland ist prinzipiell seit der Annexion der Krim vor zehn Jahren dabei, seine Reserven zu plündern. „Wladimir Putin hat bereits T-14 Armata Kampfpanzer bestellt, nun lässt er noch einmal 3.000 Exemplare des T-80 komplett modernisieren. Fragt sich nur: Was will Moskau mit so vielen Panzern?“ – vor acht Jahren hatte der Stern lang und breit über diese Frage sinniert; inzwischen ist die Antwort klar. Im Ukraine-Krieg schmelzen die Bestände an Kampfpanzern von Russlands Invasionsarmee rasend schnell zusammen. Und der T-80 scheint weiterhin als Arbeitspferd der russischen Armee zu gelten. Deshalb wird er jetzt wiederum revitalisiert, wie das Magazin militarywatch berichtet. Genau wie der Bestand an Schützenpanzern mit allen Mitteln aufgefüllt wird.

Schleppender Nachschub: Putin produziert weniger Neufahrzeuge als benötigt

Forbes spekuliert, dass die russische Führung zusehends verzweifelt und mit ihrer geschätzten Produktion von 30 Schützenpanzern monatlich den Verlusten hinterherhinkt. Der Schwindsucht russischer Waffenproduktion widersprach in Teilen bereits im Januar der Stern: „Der britische Geheimdienst schätzt, dass Russland jeden Monat mehr als 100 Kampfpanzer produziert. Diese Einschätzung bestätigt Aussagen von Russlands Verteidigungsminister Sergei Schoigu. Damit werden die derzeitigen Verluste kompensiert.“ Tatsächlich begründet sich der Einsatz der China-Buggies sicher im Mangel an gepanzerten Fahrzeugen, da die Golfwagen zwar neben dem Fahrer bis zu sechs Schützen an die Front transportieren können – aber das gänzlich schutzlos selbst gegen Feuer aus Handwaffen.

Mit entsprechenden Auswirkungen auf die Zahl gefallener Soldaten, wie Forbes resümiert: „Kurz vor dem 4. März griffen russische Truppen in mehreren ,Wüstenkreuzern‘ die ukrainische Garnison in Jampoliwka in der Ostukraine an – und wurden zerstört. Vier Tage später, am 8. März, identifizierten Militärblogger drei verlassene Desertcross nach einem gescheiterten Angriff russischer Streitkräfte in der Größe eines Zuges außerhalb von Awdijiwka. Sechs Tage später zählte der Analyst Andrew Perpetua weitere vier beschädigte und zerstörte Desertcross-Fahrzeuge.“

Der hohe Verschleiß an Mensch und Material auf russischer Seite lag häufig an der teilweise unzureichenden Panzerung der russischen Fahrzeuge. Roger Näbig schreibt im Magazin Internationale Politik: „Der grundsätzliche Mangel an Soldaten führte weiter dazu, dass Russlands technisch mittlerweile moderneres und leistungsfähigeres Gerät nicht sein volles Potenzial entfalten konnte. Außerdem verfügte die russische Armee nicht über genügend motorisierte beziehungsweise mechanisierte Infanterie sowie Nachrichtendienst- und Aufklärungskräfte, um ihre Verbindungslinien und Nachschubkonvois in der Ukraine effektiver zu schützen.“ Inwieweit der „Desertcross“ diese Tendenz umkehren kann, bleibt fraglich.

Tödliche Transportlösung: Putin lässt Soldaten fast ohne Deckung starten

Genauso schutzlos wie in den Golfwagen sind die russischen Soldaten in den abgespeckten Kampfpanzern. Der Krater, den der Turm hinterlässt, bietet wenig Deckung und lässt nur ein umständliches Absitzen zu.

Panzergrenadiere kämpfen auf zweierlei Arten: aufgesessen auf dem Panzer und als abgesessene Infanterie. Im aufgesessenen Kampf kommt vor allem die Bordmaschinenkanone zum Einsatz. Aber auch Bordmaschinengewehr und Panzerabwehr stehen zur Verfügung. Zusätzlich können die Grenadiere über die Bordwand kämpfen. Das heißt, sie bekämpfen oben aus den Panzerluken feindliche Infanteriekräfte mit Maschinengewehr, Sturmgewehr, Granatpistole oder Handgranaten, ohne den Schutz des Panzers zu verlassen. Das wiederum ist in einem umgebauten Kampfpanzer kaum möglich – dem fehlen schlicht die geschützten Möglichkeiten des Ausstiegs oder des gezielten Kampfes aus dem Fahrzeug heraus.

Auch wenn russische Soldaten weiterhin häufig auf dem Panzer sitzend ins Gefecht fahren, weil in russischen Panzern die Munition stark explosionsgefährdet ist. „Der Panzergrenadier schließt die Lücke zwischen dem klassischen Panzergefecht und dem infanteristischen Kampf“, erläutert Oberstleutnant Thomas Spranger auf der Website der Bundeswehr. „Panzergrenadiere sitzen auch unter Feuer ab. Dann geht die Heckklappe auf und man steht mitten im Gefecht.“ Der Kommandeur des Panzergrenadierbataillons 371 widerspricht damit dem kommentarfreudigen Leser des österreichischen Standard – ohne konkurrenzfähiges Material sinkt die Chance auf den Erfolg des Auftrags, ganz abgesehen davon: Dann wird vor allem das eigene Überleben unwahrscheinlich.

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