Höchster Stand seit 2016 - Experte warnt: „Das zweite Halbjahr verspricht einen Sturm von Firmenpleiten“
1530 Firmeninsolvenzen registrierte das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (IWH) aus Halle im Oktober. Das ist nicht nur ein sprunghafter Anstieg gegenüber den bisherigen Zahlen in diesem Jahr, sondern auch der höchste Stand in einem Oktober seit exakt 20 Jahren. Letztmals gingen 2004 mehr Unternehmen in diesem Monat in die Insolvenz.
Auch die Zahlen für das Gesamtjahr sehen nicht gut aus, wobei sie je nach Erhebung noch deutlich schwanken. Das IWH gibt sie einschließlich Oktober mit 12.895 an, was ein Anstieg um 35 Prozent gegenüber dem Vorjahr wäre. Allerdings nutzen die Ökonomen aus Halle Prognosemodelle, weil die amtliche Statistik der Realität immer einige Monate hinterherhinkt. Das liegt daran, dass hier nicht Anträge gezählt werden, sondern die von Amtsgerichten bestätigten Insolvenzen. Vom Antrag bis zur Gerichtsentscheidung kann aber einige Zeit vergehen. Zudem wertet das IWH nur Personen- und Kapitalgesellschaften aus, weswegen seine Zahlen etwas niedriger liegen als die gesamten Unternehmensinsolvenzen in Deutschland.
Zahl der Großinsolvenzen stark angestiegen
Offizielle Zahlen gibt es bisher nur für das erste Halbjahr. Dort registrierte das Statistische Bundesamt 10.700 Insolvenzen, was ein Anstieg um 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr war. Ebenfalls stark angestiegen ist die Zahl der Großinsolvenzen von Unternehmen mit einem Jahresumsatz von mehr als 20 Millionen Euro. Die Unternehmensberatung Falkensteg registrierte derer im ersten Halbjahr 87 Anträge, was 32 Prozent über dem Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre liegt und lediglich vom ersten Corona-Jahr 2020 mit 110 Pleiten in den ersten sechs Monaten übertroffen wurde.
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Die Zahlen deuten also daraufhin, dass dieses Jahr deutlich mehr als 20.000 Unternehmen in Deutschland in die Insolvenz gehen dürften. „Das zweite Halbjahr verspricht einen Sturm von Firmenpleiten“, sagt Restrukturierungsexperte Jonas Eckhardt von Falkensteg. Üblicherweise melden in der zweiten Jahreshälfte mehr Unternehmen Insolvenz an als in den ersten sechs Monaten. Eine reine Verdopplung der 10.700 Firmenpleiten des ersten Halbjahres im Gesamtjahr würde schon einen Anstieg um 20 Prozent gegenüber 2023 bedeuten, als die Zahl der Insolvenzen bei 17.814 lag. Es wäre gleichzeitig aber auch der höchste Stand seit 2016.
Privater Konsum weiterhin verhalten
Die Gründe für die steigende Zahl der Insolvenzen sind naheliegend. Die anhaltende allgemeine Konjunkturschwäche schlägt sich eben auch auf die Unternehmen nieder. Hohe Energiepreise und die gestiegenen Zinsen kommen hinzu, auch in diesem Jahr gestiegene Personalkosten dank überdurchschnittlich hoher Tarifabschlüsse. Gleichzeitig steigt der private Konsum in Deutschland angesichts der Wirtschaftslage nicht stark genug, um dies auszugleichen und auch Weltwirtschaft und Welthandel schwächeln unter den gleichen Bedingungen wie Deutschland, besonders absatzstarke Länder wie etwa China.
Hinzu kommt: „Während der Pandemie erhielten insbesondere schwächere Unternehmen Unterstützung durch staatliche Hilfsprogramme, wodurch Insolvenzen hinausgezögert wurden. Diese Insolvenzen holen die Unternehmen nun nach“, sagt Steffen Müller, Leiter der Insolvenzforschung am IWH. Die gestiegenen Zinsen führen zudem dazu, dass jetzt unproduktive Unternehmen in die Pleite rutschen, die sich in den Niedrigzinsphasen bis 2022 mit günstigen Krediten noch über Wasser halten konnten.
Baubranche und Handel besonders betroffen
Die Pleitewelle konzentriert sich dabei besonders auf einige wenige Branchen. Stark betroffen ist das Baugewerbe angesichts der nun im dritten Jahr anhaltenden Baukrise aus hohen Zinsen und stark gestiegenen Baukosten. Ebenfalls viele Pleiten gibt es im Handel, die viele Verbraucher am ehesten in den Innenstädten sehen, wo in den letzten Jahren Kaufhäuser von Karstadt, Galeria Kaufhof, Esprit und vielen anderen Marken verschwanden. Der dritte Fokus liegt auf den unternehmensnahen Dienstleistungen. Das sind etwa Unternehmensberatungen, Steuerberater, IT-Dienstleister, Marketing-Agenturen, Gebäudemanagement, Logistik und Transportfirmen. Auf ebenfalls hohem Niveau für die Branche selbst, insgesamt aber nicht unter den Top-Pleiten liegt das verarbeitende Gewerbe, was trivial die Industrie meint.
Überraschend ist, dass zwar die Zahl der Insolvenzen steigt, die Zahl der betroffenen Arbeitsplätze aber kaum. Von den rekordverdächtigen 1530 Insolvenzen im Oktober waren laut IWH etwa nur 10.739 Arbeitnehmer betroffen, die in den größten der insolventen Unternehmen arbeiteten. Das ist zwar auch ein starker Anstieg gegenüber dem Vormonat, liegt aber in etwa auf demselben Niveau wie im Oktober 2023, als rund ein Drittel weniger Betriebe Insolvenz anmeldeten. Auf das Gesamtjahr betrachtet arbeiteten in den insolventen Personen- und Kapitalgesellschaften rund 150.000 Arbeitnehmer. Das sind allerdings auch rund 36 Prozent mehr als im selben Zeitraum des Vorjahres.
Unternehmen begreifen Insolvenz auch als Chance
Beunruhigt sind Ökonomen angesichts der gestiegenen Zahlen aber kaum: „Derzeit werden vor allem hochverschuldete Unternehmen in die Insolvenz getrieben“, sagt IWH-Experte Müller. Das wären also solche, deren finanzielles Weiterbestehen sowieso fraglich gewesen wäre und die bei einer Konjunkturschwäche folglich als erste einknicken.
Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Creditreform Wirtschaftsforschung, argumentiert, dass Unternehmen heute zudem Insolvenzen häufiger zur Sanierung einsetzen würden als früher: „Unternehmen begreifen die Insolvenz zunehmend auch als Chance in der Krise, um aus der Schieflage zu kommen.“ Das stützt die Analyse von Falkensteg, wonach die Zahl der erfolgreichen Sanierungen insolventer Unternehmen ebenfalls ansteigt. Das wird allerdings durch die Zins-Situation verschärft. Diese macht es potenziellen Käufern auch schwerer, den Kauf insolventer Unternehmen zu finanzieren.
Zur Einordnung gehört auch, dass vor 2016 die Zahl der Unternehmenspleiten fast immer bei über 25.000 Fällen pro Jahr lag. Der Rekord wurde 2003 mit 39.320 Fällen aufgestellt. Demgegenüber liegen die heutigen Zahlen also trotz starken Anstiegs noch unter dem langfristigen Durchschnitt.
Insolvenzzahlen kein gutes Zeichen
Trotz aller abschwächenden oder gar positiven Effekte sind steigende Insolvenzzahlen kein gutes Zeichen. „Schließungen großer Arbeitgeber führen häufig zu erheblichen und dauerhaften Einkommens- und Lohnverlusten bei den betroffenen Beschäftigten“, sagt Müller. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) weist zudem daraufhin, dass es eine Diskrepanz zwischen Ost- und Westdeutschland gibt. „Fast jeder zweite im Osten ansässige Betrieb berichtet von finanziellen Schwierigkeiten“, sagt deren Mittelstandsexperte Marc Evers. Im Westen sind es nur 41 Prozent.
Und: Auch wenn es externe Gründe für steigende Insolvenzen gibt und in vielen Branchen nur die sowieso unprofitablen Unternehmen aussortiert werden, ließe sich die Zahl der Pleiten mit geeigneten politischen Maßnahmen begrenzen. Dazu gehört etwa der Abbau von Bürokratie in fast allen Bereichen. „Wir brauchen zudem Klarheit bei der Energieversorgung und Steuerentlastungen“, sagt Evers.