20 Stunden ohne Strom: Putin verschuldet den „härtesten Winter“ im Ukraine-Krieg

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Herzerwärmend: Die menschliche Nähe zwischen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj führt zu massiven Stromlieferungen aus der EU in die Ukraine. Die dortige Zivilbevölkerung erwartet den härtesten Winter seit drei Jahren. © Anatolii Stepanov / AFP

Eine Gegenwart in Kälte und Dunkelheit mit der Hoffnung auf Ökostrom ohne Ende: Die Ukraine kämpft um die Aufrechterhaltung ihrer Energieversorgung.

Kiew – „Ich verurteile auf das Schärfste Russlands anhaltenden Krieg gegen die Ukraine und seine Bemühungen, das ukrainische Volk in Dunkelheit zu stürzen“ – Ende August hatte die U.S.-Botschaft in der Ukraine eine Erklärung von U.S.-Präsident Joe Biden zum russischen Luftangriff auf das ukrainische Energienetz veröffentlicht und damit Wladimir Putin gewarnt, den Terror gegen Zivilisten aufrechtzuerhalten. Gefruchtet hat das wohl wenig. „Dieser Winter wird der härteste der letzten drei Jahre sein“, befürchtet Oleksiy Brecht.

Brecht leitet den staatlich geführten Übertragungsnetzbetreiber Ukrenergo und hat gegenüber dem ukrainischen Medienunternehmen Suspilny geäußert, er müsse sich ernste Gedanken darüber machen, wie er über die Kälteperiode hinweg die Versorgung der Ukraine mit Energie sicherstellen könne. Ukrenergo betreibt die überregionalen Stromnetze des Landes, insbesondere das Hochspannungsfreileitungsnetz und hat durch den Terror Russlands gegen die kritische Infrastruktur erhebliche Kapazitäten eingebüßt.

Putins Terror gegen Zivilisten: Ukraine drohen bis zu 20 Stunden täglich ohne Strom

„Er erinnerte daran, dass die Ukraine durch den russischen Beschuss im Frühjahr neun Gigawatt an Erzeugungskapazität verloren habe, was dem Stromverbrauch der Niederlande im Sommer beziehungsweise dem Stromverbrauch der Ukraine in der Nacht im Sommer entspreche“, schreibt Suspilny-Autorin Daria Kinsha. „Die Vereinigten Staaten liefern der Ukraine außerdem verstärkt Energieausrüstung, um ihre Systeme zu reparieren und die Widerstandsfähigkeit des ukrainischen Energienetzes zu stärken“, hatte der scheidende Präsident Biden im August veröffentlichen lassen. Die Lage ist dennoch ernster denn je.

„Entgegen den Erwartungen der Öffentlichkeit ist es fast unmöglich, solche Anlagen zu schützen. Ein mittelgroßes Wärmekraftwerk vor Raketenangriffen zu schützen, würde Milliarden kosten und einen Sarkophag erfordern, der stärker ist als der von Tschernobyl – und selbst dann könnte er wiederholten Angriffen nicht standhalten.“

Das war im Sommer schon absehbar, wie der Kiew Independent im Juni berichtet hatte. Laut den aktuellen Aussagen Brechts scheint kaum ein Silberstreif am Horizont ersichtlich zu sein. Demzufolge könnten die Ukrainer bis zu 20 Stunden täglich mit Stromausfällen konfrontiert werden, wie gegenüber dem Blatt auch Dmytro Sakharuk geäußert hat. Sakharuk ist der Geschäftsführer von DTEK, dem größten privaten Energieunternehmen der Ukraine – sekundiert hat seiner düsteren Prognose Serhiy Kovalenko. Der Geschäftsführer der DTEK-Tocher Yasno hatte ebenfalls öffentlich gemacht, die Russen hätten so viel Infrastruktur eliminiert, dass der Ukraine aktuell ein Drittel ihres Stromes fehle.

Den Ukrainern blieben in der dunklen Jahreszeit insofern vermutlich lediglich sechs bis sieben Stunden Strom. „Kovalenko riet unter anderem dazu, auf verschiedene Batterien, Generatoren, Solarmodule und Wechselrichter umzusteigen“, schrieb der Kiew Independent. „Moskau hofft, dass der Zusammenbruch des Energiesektors Millionen Menschen zur Auswanderung zwingen wird“, warnte Wolodymyr Omeltschenko bereits im Mai gegenüber der britischen BBC.

Selenskyj: Russland plane, ukrainische Atomkraftwerke anzugreifen und vom Strom zu trennen

Die Russen hätten demnach die größeren Infrastrukturen unter Feuer genommen, weil sie sich davon ebenfalls versprochen hätten, ukrainische Kapazitäten zu deren Reparaturen zu binden, sagte der Analyst des ukrainischen Thinktank Rasumkow-Zentrum. In diesem Zusammenhang hatte im August hatte die Nachrichtenagentur Reuters eine Erklärung ukrainischer Regierungsvertreter weitergegeben, wonach das Land aufgrund des Verlustes etwa der Hälfte seiner Stromerzeugungskapazität seinen Strombedarf inzwischen zum größten Teil durch Strom aus drei ukrainischen Atomkraftwerken decken müsse.

Allerdings rücken damit die ukrainischen Atomanlagen ebenfalls ins Visier der russischen Aggression. Die Ukraine sei eines der am stärksten von Atomenergie abhängigen Länder der Welt. Mehr als 50 Prozent der Stromproduktion entfallen auf Kernenergie, erläutert das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung. Derzeit sind in der Ukraine vier Kernkraftwerke in Betrieb: Chmelnyzkyj, Riwne, Saporischschja, Südukraine. Ende September hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Welt gewarnt, Russland plane, ukrainische Atomkraftwerke anzugreifen und vom Stromnetz zu trennen, wie der U.S.-amerikanische Sender CNN berichtet hatte.

Offensive gegen den Westen: USA haben 90 Prozent ihrer Versprechen nicht eingehalten

Für die Kiew Post Anlass genug für einen Frontalangriff auf den Westen: „Der größte Unterstützer der Ukraine, die USA, hat 90 Prozent seiner Versprechen, die er für dieses Jahr halten wollte, nicht eingehalten, während Russlands Verbündete – nämlich der Iran und Nordkorea – ihre Versprechen eingehalten und ihre Waffenlieferungen an Moskau erhöht haben“, schreibt Sergii Kostezh.

Dem Autoren der Kiew Post zufolge wurden im ersten Winter nach der Invasion 2022 insgesamt rund 300 Energieanlagen durch Russland neutralisiert und damit die normale Kapazität von insgesamt fast 60 Gigawatt Strom deutlich reduziert; allein durch den Verlust des Atomkraftwerks Saporischja soll die Ukraine eine Kapazität von sechs Gigawatt eingebüßt haben. „Ein Jahr nach Kriegsbeginn im Februar 2022 waren 76 Prozent der thermischen Kraftwerke zerstört, mittlerweile sind es 95 Prozent“, sagt Iryna Doronina. Und auch alle großen Wasserkraftwerke sind ausgefallen“, ergänzt die Gastprofessorin der Technischen Universität München in einer im Oktober veröffentlichten Studie darüber, wie die Ukraine ihr Energiesystem wieder aufbauen könne.

Münchner Forscher sicher: Ukraine hat das Potenzial zur Avantgarde der Energiewende

Das international besetzte Forscherteam geht davon aus, das Potenzial für erneuerbare Energien in der Ukraine sei deutlich größer als die im Krieg zerstörte Stromerzeugungskapazität – allein aufgrund der Topografie des Landes, den Distanzen zwischen Siedlungen und Stromnetzen oder gesetzlichen Vorgaben erklären die Münchner das in ihrer Fachsprache „technische Potenzial“ für „enorm“.

„Die Forscher schätzen, dass das Potenzial für Windenergie rund 180 Gigawatt beträgt, während es für Solarenergie rund 39 Gigawatt beträgt. Eine Gesamtkapazität von 219 Gigawatt würde die Erzeugungskapazität von 59 Gigawatt, über die die Ukraine zu Beginn des Krieges verfügte, bei weitem übertreffen“, schreibt TUM-Sprecher Florian Egli. In allen regionalen Stromnetzen übersteige das Potenzial für erneuerbare Energien die während des Krieges zerstörte Stromerzeugungskapazität demnach bei weitem.

Die Krise als Chance – der Krieg als Wegbereiter der Energiewende? Dieser Gedanke wird die ukrainische Zivilbevölkerung in diesem Winter kaum wärmen. Offenbar will die Europäische Union Defizite ausgleichen – dementsprechend hatte sich deren Kommissionspräsidentin geäußert: „Die EU wird in der kommenden Heizperiode in der Lage sein, 25 Prozent des Gesamtbedarfs der Ukraine zu decken“, sagte Ursula von der Leyen Mitte September während einer Konferenz zur Energiesicherheit der Ukraine.

Energiekrise vermeidbar: Milder Winter mit bis zu fünf Grad Frost würde der Ukraine in die Karten spielen

Nach ihrer Meinung bestünde Handlungsbedarf in drei Richtungen: Reparatur, Verbindung und Stabilisierung. Allerdings könne die Ukraine darauf wohl nur schwerlich warten – der Ukrenergo-Chef setzt auf die Dezentralisation von Generatoren, wie sie schon an vielen sozialen Einrichtungen wie Kindergärten oder Krankenhäusern bestünden. Laut Oleksiy Brecht könnte die Gesamtkapazität aus lokaler Erzeugung und Importen 13 bis 15 Gigawatt betragen, was in einem optimistischen Szenario ausreichen könnte, um Stromausfälle zu vermeiden, wie der Kiew Independent ihn zitiert. Ein milder Winter mit lediglich bis zu fünf Grad Frost würde der Ukraine ebenso in die Karten spielen.

Allerdings hat Sergii Kostezh parallel provokant gefragt: „Haben die USA der Ukraine in diesem Jahr wirklich nur 10 Prozent der versprochenen Waffen geliefert?“ Der Autor der Kiew Post geht davon aus, dass mit mehr Waffen und einer stärkeren Luftabwehr die gravierende Strom-Krise von vornherein hätte abgewendet werden können – wobei ihm, wie er zitiert, der anonyme Manager eines Wärmekraftwerks vehement widerspricht.

„Entgegen den Erwartungen der Öffentlichkeit ist es fast unmöglich, solche Anlagen zu schützen. Ein mittelgroßes Wärmekraftwerk vor Raketenangriffen zu schützen, würde Milliarden kosten und einen Sarkophag erfordern, der stärker ist als der von Tschernobyl – und selbst dann könnte er wiederholten Angriffen nicht standhalten.“

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