Merz bei den Vertriebenen: Kanzler würdigt umstrittene Charta in Stuttgart
Bei einem Festakt in Stuttgart spricht Bundeskanzler Merz über das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen. Deren Charta kommt nicht überall gut an.
Stuttgart – Mit einem feierlichen Festakt im Neuen Schloss in Stuttgart erinnert der Bund der Vertriebenen heute an die Unterzeichnung der Charta der deutschen Heimatvertriebenen vor 75 Jahren. Unter dem Motto „80 Jahre: Erinnern – Bewahren – Gestalten“ soll das Schicksal von über zwölf Millionen Menschen gewürdigt werden, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat in Mittel- und Osteuropa verlassen mussten. Die Festrede wird kein Geringerer als Bundeskanzler Friedrich Merz halten.
Der CDU-Chef bemüht sich nicht erst zum heutigen Jubiläum der Charta um ein enges Verhältnis zu den deutschen Heimatvertriebenen. Die Spätaussiedler hätten mit ihrer „unermüdlichen Arbeit und ihrem Fleiß dieses Land nach vorne gebracht“, so Friedrich Merz in einer Ansprache im Wahlkampf vor der Bundestagswahl 2025. Merz kritisierte die Ampelkoalition in derselben Ansprache dafür, dass sie die Interessen der Aussiedler „nicht gehört“ habe. „Wir werden diese fatale Entwicklung nach dem 23. Februar stoppen“, sagte Merz.
75 Jahre Charta der Heimatvertriebenen – Friedrich Merz hält Rede in Stuttgart
Die Charta, die am 5. August 1950 unterzeichnet wurde, gilt als wegweisendes Dokument der Versöhnung. Sie enthält einen Aufruf zum Verzicht auf Rache und Vergeltung sowie ein klares Bekenntnis zur Völkerverständigung. Merz betonte in der Vergangenheit immer wieder die historische Bedeutung dieses Dokuments für die deutsche Nachkriegsgeschichte. Auch der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU) unterstrich vor der Veranstaltung, dass man den Heimatvertriebenen kulturell, wirtschaftlich und politisch sehr viel verdanke.
Die Charta des Bundes der Deutschen Heimatvertriebenen in der Zusammenfassung
Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen wurde am 5. August 1950 in Stuttgart von 30 Vertretern der deutschen Heimatvertriebenen unterzeichnet. Sie entstand in einer Zeit großer Not, als Millionen Heimatvertriebene und Flüchtlinge in Westdeutschland lebten, von denen die Hälfte noch in Lagern untergebracht war.
Die Vertriebenen verzichteten in ihrer Charta bewusst auf Rache und Gewalt und bekannten sich zur Schaffung eines geeinten Europas sowie zur Völkerverständigung. Die Charta betont das „Recht auf die Heimat“ als gottgeschenktes Grundrecht der Menschheit und fordert aktiven Einsatz für den Wiederaufbau Deutschlands und Europas. Sie wird als eines der Gründungsdokumente der Bundesrepublik Deutschland betrachtet, das radikalen Versuchungen den Boden entzog und den Weg für europäische Einigung und Versöhnung bereitete.
Die Charta ermöglichte nicht nur die Integration von Millionen Vertriebenen, sondern wird von ihren Unterstützern auch als wichtiger Beitrag zum deutschen Wirtschaftswunder bewertet.
Der Evangelische Pressedienst (epd) machte vor der Veranstaltung zu 75 Jahren Charta der Vertriebenen mit Friedrich Merz die dramatischen Umstände von Flucht und Vertreibung anhand des Zeitzeugens Albert Reich deutlich. Der 92 Jahre alte Egerländer erlebte als 13-Jähriger die Schrecken der Nachkriegszeit. Laut epd-Bericht saß Reich in einem Gefangenenkeller im damals tschechoslowakischen Tabor fest. Soldaten hätten damals regelmäßig Mitgefangene aus dem Keller geholt, um sie als Zielscheiben für Schießübungen zu nutzen. „Ich habe mir in die Hosen gemacht, weil ich dachte, gleich trifft‘s mich“, erzählte der heute 92-Jährige dem epd.
Friedrich Merz besucht Stuttgart - Rede des Kanzlers um 13 Uhr erwartet
Jahre später war Albert Reich nach eigener Aussage als 17-Jähriger dabei, als im Jahr 1950 die Charta der Vertriebenen vor den Ruinen des Neuen Schlosses in Stuttgart verkündet wurde. Ein Raunen sei durch die Menge gegangen, als der Satz „wir verzichten auf Rache und Vergeltung“ verlesen wurde, erinnerte sich Reich.
An derselben Stelle, wo vor 75 Jahren die Charta erstmals verlesen wurde, wird heute also Friedrich Merz an das Schicksal der deutschen Vertriebenen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erinnern. Der Bundeskanzler wird gegen 13 Uhr am Schlossplatz in Stuttgart erwartet. Die Veranstaltung wird laut Informationen der Stuttgarter Zeitung etwa zwei Stunden dauern. Neben Vertretern der Landesregierung Baden-Württembergs unter Ministerpräsident Winfried Kretschmann soll auch Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper teilnehmen. Reden werden neben Merz auch Bernd Fabritius, Präsident des Bundes der Heimatvertriebenen (BdV), und der baden-württembergische Landwirtschaftsminister Peter Hauck halten.
Friedrich Merz ehrt umstrittene Charta der Heimatvertriebenen in Stuttgart
Einen längeren Aufenthalt plant Friedrich Merz in Stuttgart aber nicht. Nach seiner Rede zum Jubiläum „75 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ wird der Kanzler wohl direkt wieder abreisen. Zu Kontakt mit den Bürgern Baden-Württembergs wird es wohl ebenfalls nicht kommen. Merz werde lediglich vor den Gästen der bereits ausgebuchten Veranstaltung sprechen, informiert die Stuttgarter Zeitung über das Programm des Kanzlers.
Nicht alle Stimmen in der Bundespolitik bewerten die Charta der Heimatvertriebenen so positiv, wie es Friedrich Merz wohl in seiner heutigen Rede tun wird. Tatsächlich gibt es bereits seit Jahren kontroverse Diskussionen über den Inhalt der Charta. Die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg verweist auf das Spannungsfeld zwischen „wegweisendem Dokument der Versöhnung“ und „selbstgefälligem Opferdokument“. Besonders innerhalb der Partei Die Grünen wird die Charta als „historisch einseitige Erklärung“ kritisiert, weil sie den Nationalsozialismus und die Vorgeschichte der Vertreibung ausklammere.
Der Publizist Ralph Giordano kritisierte die Charta im Interview mit dem Spiegel: „Für mich ist es ein Dokument des damaligen Zeitgeistes, also der Verdrängung. Die Vorgeschichte der Vertreibung, das Leid, das die Deutschen über Europa und die Welt brachten, wird in dieser Charta überhaupt nicht erwähnt.“
Für Friedrich Merz kommt die Reise nach Stuttgart zu den Feierlichkeiten der Heimatvertriebenen in unruhigen Zeiten. Der Kanzler und seine Union liegen laut einer aktuellen Umfrage derzeit bei 27 Prozent Zustimmung und damit nur noch knapp vor der AfD, die auf 25 Prozent kommt. Für die rechtspopulistische Partei ist das Leid der deutschen Heimatvertriebenen seit je her eines der zentralen Wahlkampfthemen. (dil)