„So viele Verluste“: In Bilohoriwka tobt eine blutige Schlacht – fast unbemerkt
„So viele Verluste“: In Bilohoriwka tobt eine blutige Schlacht – fast unbemerkt
Ein unbedeutender Ort wird zum Symbol der blutigen Unbeweglichkeit des Ukraine-Krieges. Zivilisten sterben, Häuser bersten und Soldaten harren aus.
Bilohoriwka – „Entsetzen über Angriff auf Dorfschule“ hatte die Deutsche Welle berichtet. Das war Anfang Mai. Vor zwei Jahren. Nach einem Bombentreffer in einer Schule im ostukrainischen Dorf Bilohoriwka in der Region Luhansk waren vermutlich mehr als 60 Menschen ums Leben gekommen, was die Medien weltweit veröffentlichten. Russische Streitkräfte hätten demnach eine Bombe auf das Gebäude geworfen, möglicherweise gezielt. Mehr als zwei Monate nach Beginn der „Spezialoperation“ zeigte Wladimir Putin deutlich, dass er der Ukraine kein Pardon zu geben gedachte. Jetzt, im dritten Kriegsjahr, wird zwar kaum noch groß darüber gesprochen, aber der Kampf in Bilohoriwka geht weiter – und genau so unbarmherzig wie zu Beginn.
„Warum spricht niemand über die Geschehnisse in Bilohoriwka?“, fragt der Soldat mit dem Kampfnamen „Chornyi“ die Ukrainska Prawda. „Chornyi“ ist nach Angaben des Magazins ein 25-jähriger Maschinengewehrschütze der 81. Brigade – die benötigt dringend Verstärkung. Der Kampf um den Ort tobt seit Beginn des Krieges; das Ende ist offen und liegt wahrscheinlich noch in weiter Ferne.
Russlands Hindernis auf dem Vormarsch: ein unbedeutender Ort
Das russische Militär hatte vor drei Monaten erklärt, die vollständige Kontrolle über die Siedlung übernommen zu haben, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtete. Laut den ukrainischen Verteidigern waren die Kämpfe dort aber noch im Gange, und die Ukraine sei mit Panzern vorgegangen, wie das ukrainische Magazin Militarnyi schrieb. In Bilohoriwka herrscht ein blutiges Hin und Her.
„Nach dem Abzug der Wagner-Anhänger waren wir dem Feind überlegen – sowohl in nachrichtendienstlicher Hinsicht als auch in Bezug auf die Bewaffnung. Wir konnten ohne Angst in Bilohoriwka umhergehen. Wir konnten aus dem Keller kommen und einen Kaffee trinken, während die Vögel sangen. Doch heute ist die Situation anders.“
Vor der groß angelegten Invasion Russlands in der Ukraine sei Bilohoriwka ein unbedeutendes Nest mit bis zu 800 Einwohnern gewesen. „Nördlich von Bilohoriwka fließt der Fluss Siwerskyj Donez, im Westen wird er von 100 Meter hohen natürlichen Kreidehügeln flankiert, von denen das Dorf seinen Namen hat. Im Süden befindet sich ein großer Kreidesteinbruch, in dem bis 2010 Kreide für das Sodawerk Lysytschansk abgebaut wurde“, schreibt die Ukrainska Prawda. Grundsätzlich habe das Dorf also für Russland keinen großen Wert gehabt – außer seiner strategischen Lage. Neben den Kreidefelsen beherbergt der Ort vor allem eine Filterstation für das Flusswasser, das das Gebiet versorgt. Drumherum liegt ein Industriegebiet von 25 Hektar.
Russlands Angriffe im Ukraine-Krieg: Tausende Zivilisten getötet oder verwundet
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hatte im April dieses Jahres noch festgehalten, dass angesichts der umfassenden Leiden der Zivilbevölkerung keine Region der Ukraine von Moskaus Krieg gegen den Nachbarn verschont bliebe: „Unter Hinweis auf Moskaus ,Vernichtungsstrategie‘ sagte der ukrainische Vertreter, dass die Russische Föderation seit Anfang 2024 fast 1.000 Raketen, etwa 2.800 „Shahed“-Drohnen und fast 7.000 gelenkte Fliegerbomben auf ukrainische Städte und Dörfer abgefeuert habe. Nur drei Prozent der russischen Raketen, Drohnen und gelenkten Bomben trafen militärische Ziele, während 97 Prozent die zivile Infrastruktur trafen“, berichten die UN.
In diesem Krieg sind mehr als 11.100 Zivilisten getötet und mindestens 21.860 verletzt worden, bilanziert dessen Hochkommissariat für Menschenrechte mit Datum von Mai dieses Jahres. „Russland wendet eine Reihe tödlicher Taktiken an, die nach internationalem Recht illegal sind“, urteilen deshalb Mercedes Sapuppo und Shelby Magid.

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Den vorsätzlichen Abwurf von Gleitbomben auf zivile Gebiete und den direkten Beschuss ziviler Infrastruktur zählen die beiden Autorinnen des US-amerikanischen Thinktank Just Security mit dazu – zuletzt hatte Russland im Juli ein Kinderkrankenhaus in Kiew bombardiert und 20 Menschen getötet; ein Ereignis, das das tägliche Leiden in einer im Weltgeschehen unbedeutenden Ortschaft wie Bilohoriwka medial in den Schatten stellt. Genauso wie der russische Bombenangriff im Mai auf einen Hypermarkt in Charkiw; auch dort mit fast 20 Todesopfern.
Alltag im Ukraine-Krieg: Kontrolle über Bilohoriwka wechselt mehrfach
Bilohoriwka ist insofern nur eine Randnotiz dieses Konflikts, bleibt in seiner Individualität jedoch bedeutend. Der Ort selbst erhält seine Bedeutung offenbar vornehmlich durch seine erhöhte Lage, die die Kontrolle über drei Himmelsrichtungen ermöglicht. Die Siedlung spielte von Anbeginn an offenbar eine gewichtige Rolle für die Kontrolle der Route Bachmut-Lyssytschansk. In Bilohoriwka konnten die Ukrainer den Russen einen Riegel vorschieben und diesen Zugang versperren: Laut der Ukrainska Prawda haben die Russen anfangs durch die 26. und 80. Brigade der ukrainischen Armee 500 Mann und 80 Fahrzeuge verloren.
Im Dezember stießen Wagner-Söldner nach und übernahmen die Kontrolle über die Ortschaft. Diese ging dann wieder an die Gegenseite über, als im Januar 2023 die 81. Luftlande-Brigade der Ukraine gegen die Wagner-Söldner Boden gutmachen und sogar einige Kilometer weiter vorrücken konnte, wie die Prawda berichtet.
„Nach dem Abzug der Wagner-Anhänger waren wir dem Feind überlegen – sowohl in nachrichtendienstlicher Hinsicht als auch in Bezug auf die Bewaffnung. Wir konnten ohne Angst in Bilohoriwka umhergehen. Wir konnten aus dem Keller kommen und einen Kaffee trinken, während die Vögel sangen. Doch heute ist die Situation anders“, wie der ukrainische Soldat „Teddy“ der Ukrainska Prawda aktuell berichtet. Die Ukrainer haben bluten müssen: an Männern und Ausrüstung; beispielsweise Drohnen.
Russlands rennt unnachgiebig an: Verschiedene Taktiken vom ersten Tageslicht an
Seit Januar dieses Jahres drängen die Russen wieder vorwärts; seit April stehen die ukrainischen Verteidiger unter verstärktem Druck. Das ukrainische Magazin Militarnyi berichtet von verschiedenen Taktiken, mit denen die Russen versuchen, Herr über die Lage zu werden – immer mit pausenlosen Angriffen über den gesamten Tag hinweg von drei Uhr morgens an, um das erste Tageslicht auszunutzen; und immer mit veränderten Taktiken, weil die vorherigen offensichtlich erfolglos waren. Und immer und immer wieder, wie Militarnyi den Soldaten „Oleksandr“ zitiert – einen Angehörigen der 81. Brigade.
„Sie begannen mit dem Beschuss mit Handfeuerwaffen, und dann gab es am Abend einen Konvoi von acht bis zehn Golfwagen, der versuchte, zu den Stellungen zu gelangen. Der nächste Angriffsversuch erfolgte mit schwerem Gerät. Dann versuchten sie, mit Motorrädern dorthin zu gelangen. Der letzte Angriff war ein massiver Mehrfach-Raketenwerfer-Angriff, gefolgt von Fahrzeugen, dann Infanterie als Unterstützung für die Angriffsgruppen, die vorgerückt sind und begannen, unsere Stellungen in kleinen Gruppen anzugreifen“, erklärte das ukrainische Militär.
im Rahmen der Kampfhandlungen sollen zuweilen nur noch ein Dutzend Einwohner zurückgeblieben sein, während der Rest geflohen ist. Rückzug aber schien für das Militär bisher keine Option gewesen zu ein. Die Ukrainska Prawda spricht davon, dass die 81. Brigade der Ukraine offenbar in ihren Gräben festgenagelt zu sein scheint: Bis zu einem Jahr haben deren Einheiten dort in ihren Stellungen verharrt, um den russischen Durchbruch zu verhindern. Das ist das stille Leiden, das in keinen Nachrichten Platz findet.
Die neuen Rekruten der Ukraine: im Durchschnitt 50 Jahre alt
Grund für die ausgebliebene Rotation der ukrainischen Truppen waren die logistischen Herausforderungen in dieser Region, die unter ständigem russischen Feuer steht, sowie der katastrophale Personalmangel. Die Prawda spricht davon, dass in der zweiten Hälfte des vorangegangenen Jahres lediglich vier neue Rekruten die Brigade aufgefüllt hätten. Zwischenzeitlich hätten lediglich 13 Männer die Stellungen stellvertretend für 50 Männer halten müssen; bisweilen rennen Gruppen von 20 Russen auf zwei Verteidiger zu. Das Kräfteverhältnis spricht in jedem Fall für Russland.
Insgesamt hatten rund zwei Dutzend Verteidiger das 25 Hektar große Industriegebiet halten müssen. Dringen deshalb Russen ein und verschanzen sich etwa in Kellern der Industrie-Ruinen, bleibt den Verteidigern kaum eine Wahl, als mit Artillerieschlägen die Ruinen weiter zu beschießen. Der Ort wird notgedrungen Stück für Stück eingeebnet. Für eine gezielte Verteidigung fehlen der Ukraine die Kräfte. „Dort gibt es ständig Angriffe. Es hat so viele Verluste gegeben, sowohl auf unserer als auch auf ihrer Seite. Es sind nur noch sehr wenige Kämpfer übrig“, sagt „Chornyi“.
„Wenn das Rekrutierungsbüro derzeit eine Gruppe von Rekruten zur Luftlandebrigade schickt, ist der jüngste möglicherweise 50 Jahre alt“, berichtet die Ukrainska Prawda. „Die Ausbildung eines neuen Rekruten dauert eine Woche bis einen Monat, bevor er nach Bilohoriwka geht, je nachdem, wie dringend die Positionen Leute brauchen.“