Bundeswehr-Konteradmiral a.D. warnt vor „sehr ernster Lage“: „Es gibt Geheimdienstinformationen“

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Was, wenn Donald Trump die NATO entkernt? Konteradmiral a.D. Jürgen Ehle kennt NATO, EU und Bundeswehr von innen – er fordert schnelles Handeln.

Rottach-Egern/München – 70 Jahre wird die Bundeswehr im Herbst alt. Und selten schien ihre Zukunft so ungewiss: einerseits schuldenfinanzierte Milliarden-Investitionen, andererseits die Sorge vor einem schnellen Angriff aus Russland auf NATO-Gebiet – und vor einer Abkehr von Donald Trumps USA vom Bündnis mit Europa. Könnten die Europäer samt der Bundeswehr in diesem Fall zusammenrücken und in die Bresche springen?

Ein nahezu perfekter Adressat für diese Fragen ist Jürgen Ehle: Der Konteradmiral a.D. hat jahrelang im NATO-Hauptquartier Strategiefragen bearbeitet und war militärischer Berater für den Auswärtigen Dienst der EU. Erst im Sommer 2024 ist Ehle als dienstältester Soldat der Bundeswehr nach gut 48 Dienstjahren in den Ruhestand gegangen. Er kennt also Bundeswehr, NATO und EU bestens. Wer aber meint, dass Ehle aus dieser Innensicht beschwichtigt, wird eines Besseren belehrt: Im Interview am Rande des „Unternehmerstags“ am Tegernsee schildert Ehle große Hausaufgaben für EU und NATO.

Bundeswehr-Konteradmiral a.D. Ehe: „Die Lage ist tatsächlich sehr ernst“

Herr Ehle, aus Ihrer Sicht: Wie ernst ist die Sicherheitslage in Europa?

Die Lage ist tatsächlich sehr ernst. Das Problem ist: Selbst wenn es zu einem Frieden in der Ukraine kommt, und selbst wenn dieser Frieden die Bedingungen Wladimir Putins erfüllt, wird Putin nicht zufrieden sein. Warum? Weil Putin mehr will. Putin will die Ukraine auflösen oder er will die ganze Ukraine haben. Also wird er weitermachen, auch wenn es bis dahin ein oder zwei Jahre dauert. Das ist das eine.

Und das andere?

Es gibt Geheimdienstinformationen, unter anderem vom Bundesnachrichtendienst, dass Putin bis 2029, 2030 in der Lage ist, ein NATO-Land zu überfallen. Ein Blick auf die russische Kriegswirtschaft untermauert das. Russlands Rüstungsindustrie produziert praktisch 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche – mittlerweile gehen 50 Prozent an die Front in der Ukraine und 50 Prozent in die Depots. Die Bestände in den Depots könnte Putin dazu nutzen, eine Aggression gegen einen NATO-Staat durchzuführen. Ich will damit nicht sagen, dass das sicher passieren wird. Aber wir müssen uns darauf vorbereiten. Also: Ja, die Situation ist sehr bedrohlich.

Warnung von NATO- und EU-Kenner: „Wenn Putin ein schwaches Europa sieht, ...“

Der österreichische Verteidigungsexperte Ulf Steindl sagte mir jüngst, Europa müsse lernen, wieder „strategisch zu denken”, statt in alle Richtungen zu appellieren. Wäre das ein wichtiger Ansatz?

Mehr als das. Noch weit vor dem Ukraine-Krieg hat der ehemalige Hohe Vertreter der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, gesagt, Europa müsse wieder die Sprache der Macht lernen. Das kann ich bestätigen. Und in der gegenwärtigen geopolitischen Situation gilt das noch mehr als zuvor.

Zur Person: Jürgen Ehle

Ehle war 1976 in die Bundeswehr eingetreten und hat eine Offiziersausbildung bei der Marine absolviert. Ab 2002 war er an höchsten Planungsstellen tätig: als „Leiter Strategische Planung und Fähigkeitenanpassung“ im NATO-Hauptquartier, ab 2007 als Referatsleiter im Bundesverteidigungsministerium und zuletzt als militärischer Berater in Sachen „Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik und Krisenreaktion“ im Auswärtigen Dienst der EU.

Sie waren auch mit Strategiefragen der EU betraut. Gilt dieser Appell auch aus der Innensicht, für die Apparate der EU?

Ja, absolut. Ich kann nicht nur von der EU, sondern auch von der NATO her bestätigen, dass wir uns jetzt vorbereiten müssen. Wenn Putin ein schwaches Europa sieht, macht er weiter. Putin versteht nur eine Sprache: die der Stärke. Darauf müssen wir uns mit allen Mitteln vorbereiten – und zwar schnell.

Nun kursiert auch das Szenario, dass sich die USA komplett von der NATO abwenden. Teilen Sie diese Befürchtung?

Wir wissen noch nicht, ob sich Donald Trump tatsächlich von der NATO verabschiedet. Da müssen wir noch abwarten. Wir wissen aber sicher, dass Amerika weniger für die europäische Sicherheit tun wird. Ich muss gleichwohl einschränkend sagen: Das ist nicht neu. Obama hat damals gesagt, die amerikanischen Streitkräfte konzentrieren sich jetzt mit Blick auf den großen Konkurrenten China auf den Indopazifik. Selbst John F. Kennedy hat schon gesagt, der europäische Pfeiler der NATO müsse gestärkt werden.

Atomwaffen in Europa: „Abschreckungskulisse gegenüber Putin aufbauen“

Aber die Lage fühlt sich doch deutlich anders an als zu Obamas oder Kennedys Zeiten.

Das ist durch die Person Trump natürlich in einer sehr viel drastischeren Sprache hervorgetreten. Er hat etwa gefragt, wie er einem amerikanischen Steuerzahler erklären soll, dass die USA Nordmazedonien verteidigen. Das könne er nicht. Und er betont, der Ukraine-Krieg sei letztlich ein europäisches Problem und kein amerikanisches. Zwischen den USA und Europa liege ja auch ein ganzer Ozean. Was ich sagen will: Europa muss mehr tun, das ist nicht neu. Neu ist, dass Europa jetzt sehr, sehr schnell mehr tun muss. Wir müssen jetzt sehr, sehr schnell reagieren, sehr, sehr schnell in die Rüstung gehen, um von den Amerikanern weitgehend unabhängig zu werden. Auch nuklear.

Sind die Zweifel am Fortbestand des US-Atomwaffenschirms gerechtfertigt?

Die USA haben zum nuklearen Schutzschirm über Europa noch nichts gesagt. Aber wir müssen darüber nachdenken, wie wir hier eine Abschreckungskulisse gegenüber Putin aufbauen.

Jürgen Ehle 1999 als Geschwaderkommandant im Gespräch mit dem damaligen Verteidigungsminister Rudolf Scharping (rechts)
Schon in den 90ern war Jürgen Ehle Führungskraft bei der Bundeswehr – hier 1999 als Geschwaderkommandant im Gespräch mit dem damaligen Verteidigungsminister Rudolf Scharping. © Ingo_Wagner

Reicht es da, mit Macron über eine Ausweitung des französischen Schirms zu sprechen?

Absolut nicht! Da gibt es sehr viele Bedenken. Macron hat ja selbst gesagt, er will kein Mitspracherecht – das heißt, Frankreich entscheidet, wann Nuklearwaffen eingesetzt werden. Also gibt es auch keine hundertprozentige Verlässlichkeit für die Europäer. Und zugleich gilt: Wenn Macron nicht mehr da ist, kommt möglicherweise Le Pen. Man muss davon ausgehen, dass sie an so einem Nuklearschirm für Europa gar nicht interessiert ist. Also hier müssen wir ganz andere Wege denken.

Wie können die aussehen?

Wir müssen versuchen, eine gesamteuropäische Lösung aufzubauen. Oder aber möglicherweise mit den Amerikanern einen Deal machen, um sie doch zum Aufrechterhalten des Schirms zu bewegen. Darüber muss man nachdenken. Aber eine französische Lösung halte ich für nicht vorteilhaft, auch nicht als Abschreckungskulisse gegenüber Putin.

Trump zählt die NATO an: Europäische Armee „gute Idee“ – aber noch in weiter Ferne

Vor dem Hintergrund einer möglichen Abkehr der USA von der NATO: Braucht es auch neue, europäische Kommandostrukturen?

Das ist eine schwierige Frage. In der NATO gibt es klar geregelte Kommandostrukturen – in der Europäischen Union nicht. Ein Ziel ist durchaus, ein militärisches Hauptquartier der EU zu gründen. Nicht in Konkurrenz zur NATO, sondern für Fälle, in denen die Europäische Union dort eingesetzt wird, wo die NATO nicht eingesetzt werden will oder kann. Beispielsweise in Afrika. Da muss zwar noch sehr viel getan werden, aber das ist auf einem guten Wege. Aber: nicht in Konkurrenz zur NATO, sondern komplementär.

Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas hat vor der Vorstellung des neuen EU-Weißbuches zur Verteidigung betont: Eine europäische Armee ist nicht das Ziel. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Manfred Weber, der sich sehr klar für eine europäische Armee ausspricht. Was meinen Sie: Kann sie Realität werden?

Den Mythos der europäischen Armee gibt es schon sehr lange. Eine „Armee der Europäer“ stand sogar 2018 noch im Koalitionsvertrag der damals neuen Bundesregierung. Die europäische Armee ist aus meiner Sicht eine gute Idee. Aber die Umsetzung ist sehr, sehr schwierig.

Warum ist das so komplex?

Ein Problem ist, 27 verschiedene Armeen unter einen Hut zu bringen. Es gibt verschiedene Einsatzgrundsätze, verschiedene Fähigkeiten. Und es scheitert am Parlamentsvorbehalt. Die meisten EU-Mitgliedstaaten der Europäischen Union wollen die Souveränität über ihre Streitkräfte nicht an die Europäische Union abgeben. In Deutschland etwa soll immer der Bundestag entscheiden und nicht eine EU-Institution, welche auch immer. Das ist der Hauptgrund für das Scheitern. Es muss noch viel, viel passieren, damit die europäischen Staaten in Zukunft vertieft politisch zusammenarbeiten und Vertrauen schaffen. Aber ich möchte dennoch dafür plädieren, das als langfristige Vision im Auge zu behalten.

Wie denkt die US-Army über Trumps NATO-Kurs? „Zwei Themen, nach denen man Kameraden nicht fragt“

Sie haben einen Teil Ihrer gehobenen Ausbildung in den USA absolviert, hatten da sicher auch engen Kontakt zu den US-Streitkräften. Konnten Sie sich damals vorstellen, dass es plus/minus 25 Jahre später einen Moment gibt, in dem sich das NATO-Bündnis aufzulösen droht?

Niemals. Ich bin den USA persönlich sehr dankbar. Ich bin ja schon etwas älter – und ohne die Vereinigten Staaten hätten wir unser Land nicht so aufbauen können. Ohne den Schutz der amerikanischen Soldaten. Wir müssen auch dankbar sein, weil ohne die USA die deutsche Wiedervereinigung niemals zustande gekommen wäre. Auch deshalb sollten wir jetzt abwarten und nicht gleich alles über Bord werfen. Wir müssen trotz all dem, was jetzt von amerikanischer Seite geschehen ist, versuchen, das transatlantische Bündnis am Leben zu halten.

Haben Sie eigentlich noch Verbindungen in die US-Army und können etwas zur Stimmungslage dort sagen?

Nein, zur US-Army, zu Aktiven, nicht. Aber es ist ohnehin ein Stück weit Tradition, auch in der amerikanischen Army, dass man Kameraden zu zwei Themen niemals befragt: Das eine ist Religion, das andere ist Politik.

Sie sind jetzt seit acht Monaten im Ruhestand. Sind Sie eigentlich froh darüber – und würden Sie angesichts der Weltlage lieber weiter anpacken?

Ich denke, als Soldat mit über 48 Dienstjahren habe ich meine Pflicht erstmal erfüllt. Ich mache jetzt noch Beratungstätigkeiten, bei denen ich meine Erfahrungen weitergeben kann, und das macht sehr viel Spaß. Also: Wenn Sie so wollen, bin ich in gewisser Hinsicht noch sehr aktiv. (Interview: Florian Naumann)

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