Seit Monaten sahen Umfragen die AfD in Thüringen in Front – auch die CDU kann das Ergebnis nicht verhindern. Ein Experte mahnt zur Selbstkritik.
Die Umfragen hatten es schon lange angedeutet – und dennoch nahm das Erwartete und vielerorts Befürchtete seinen Lauf: Die AfD ist bei der Thüringen-Wahl zur stärksten Kraft geworden. Wie konnte das passieren? Noch-Ministerpräsident Bodo Ramelow warf der CDU bei IPPEN.MEDIA vor, die AfD „normalisiert“ zu haben. Aber auch der Politikwissenschaftler André Brodocz von der Uni Erfurt sieht mögliche Fehleinschätzungen bei den Thüringer Christdemokraten. Und die Sachsen-Wahl dürfte Friedrich Merz noch beschäftigen.
Thüringen-CDU und die AfD: „Vielleicht kein kluges Agieren“
Die Vorgeschichte in Thüringen ist lang: Schon seit Wahl 2019 gab es keine stabilen Mehrheiten für eine Landesregierung – das Problem kulminierte in der ominösen Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten. Später platzte eine geplante Neuwahl. Und mit ihr final eine „Stabilitätsmechanismus“ genannte Tolerierung zwischen Rot-Rot-Grün und der CDU im Erfurter Landtag.
„Über die ganze Legislaturperiode haben wir gesehen, dass die Opposition, vor allen Dingen die AfD, die Unzufriedenheit mit der Landesregierung nutzt“, sagt Brodocz IPPEN.MEDIA. Die CDU sei dabei in einer „Zwischenrolle“ gewesen: Anfangs habe sie Ramelows Regierung toleriert, ohne das offen benennen zu wollen, später sei die Neuwahl auch an ausscherenden CDU-Abgeordneten gescheitert.
„Dann hat die CDU auf den Stabilitätsmechanismus verzichtet, hat zum Teil auch zwei Gesetze mit der AfD gegen die Regierung beschlossen“, erläutert er: „Insgesamt muss die CDU wahrscheinlich für sich zu dem Ergebnis kommen, dass das in dieser Art und Weise vielleicht kein kluges Agieren war, weil sie aus den großen Verlusten der Regierungsparteien am Ende doch vergleichsweise wenig Profit gezogen hat.“
In einer neuen Thüringer Landesregierung dürfte die CDU nun wohl gezwungen sein, mit der AfD zumindest in einigen Fragen zu kooperieren – Björn Höckes Fraktion wird nach Stand der Dinge eine Sperrminorität erhalten: Ohne die als rechtsextremistisch eingestufte Thüringer AfD werden etwa kaum Verfassungsrichterposten nachzubesetzen sein. „Das heißt, die AfD gewinnt an Gestaltungsmöglichkeiten, selbst wenn sie nicht an der Regierungsbildung beteiligt ist“, sagt Brodocz. Eine unangenehme Lage für alle, die es nicht mit der AfD halten.
Nach den Ost-Wahlen: CDU-Chef Merz muss umschwenken – „Sonst kann er die Bundestagswahl aufgeben“
Vor Herausforderungen steht die CDU aber nicht nur in Thüringen. Auch die Bundes-CDU wird nach den Ost-Landtagswahlen einen kleinen Schwenk vollziehen müssen, wie Politologe Jürgen Falter im Gespräch mit unserer Redaktion sagt. Das liege am russlandpolitischen Kurs von Sachsen-Ministerpräsident und CDU-Spitzenkandidat Michael Kretschmer – und Parteichef Friedrich Merz‘ Reaktion darauf. Kretschmers Haltung konnte wahlweise als Tribut an die Stimmung im Land gewertet werden. Oder an den möglichen Koalitionspartner BSW, der gegen Ukraine-Hilfen ist. In Sachsen reichte es immerhin zum (knappen) Wahlsieg.
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„Herr Merz hat sich in den letzten Wochen sehr zurückgehalten, was Stellungnahmen in Bezug auf Äußerungen von Herrn Kretschmer etwa im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine angeht. Das kann er natürlich nicht auf Dauer durchhalten“, sagt Falter. „Da wird er wieder deutlicher werden, spätestens nach der Brandenburg-Wahl. Vorher vielleicht nicht, vorher wird er sich vielleicht noch vornehm zurückhalten.“
Nach Brandenburg bleibe Merz aber nichts anderes übrig, als „auch außenpolitisch wieder einen klaren CDU-Kurs zu fahren, sonst kann er gleich die nächste Bundestagswahl aufgeben“, betont Falter. Wie der zu erwartende Schwenk langfristig in Ostdeutschland ankommt, bleibt abzuwarten – für Kretschmer dürfte es zunächst einmal um die Koalitionsbildung gehen. Dabei sieht Falter enorme Unterschiede zum möglichen Partner BSW. Er hält sogar eine Minderheitsregierung der CDU für möglich. (fn)