Traumatische Erlebnisse auf Kinderkur: Es war wie „Gefängnis und Folter“

  1. Startseite
  2. Lokales
  3. Garmisch-Partenkirchen
  4. Schwaigen

Kommentare

Steht heute nicht mehr: der Lindenhof in Grafenaschau. Vor mehreren Jahrzehnten nutzte die Innere Mission die Immobilie für Kinderkuren. © Roland Lory

Gabriele Marhold-Wormsbächer (68) wurde 1963 als kleines Mädchen ins Grafenaschauer Kinderkurheim verschickt. Sie verbindet den Aufenthalt mit unschönen Erinnerungen.

Grafenaschau – Erst seit ein paar Jahren gibt es in Deutschland eine Sensibilität für die Zustände, die in den 1950er bis 1980er Jahren in Kinderkureinrichtungen herrschten. Millionen noch oft sehr kleiner Kinder wurden mit damals teils fragwürdigen ärztlichen Diagnosen alleine ohne Eltern für sechs Wochen verschickt. Der Zweck: „Erholung“, „Aufpäppelung“ und „Gesundung“. „In diesen Institutionen waren Elternbesuche ausdrücklich verboten, es herrschte eine strenge Briefzensur“, heißt es einem Offenen Brief von Anja Röhl vom Verein „Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickung“ an Bundeskanzler Olaf Scholz. Das Schreiben wurde im Januar publiziert. Darin ist auch von illegalen Medikamentenversuchen die Rede, von Operationen und anderen ärztlichen Eingriffen, ohne dass die Eltern informiert wurden. „Viele heute ältere Menschen erinnern diese Verschickungen extrem traumatisch“, betont Röhl. Es herrschten seinerzeit Erziehungsmethoden, die mit Strafen, Kontrolle, Gewalt, Demütigungen oder Einschüchterungen verbunden sind. Die Absicht dahinter war, Kinder und Jugendliche völlig unterzuordnen. Heutzutage spricht man von „Schwarzer Pädagogik“.

Kinderbild Gabriele Marhold 1962 kurz vor der Verschickung nach Grafenaschau Januar 1963.
Kurz vor der Verschickung nach Grafenaschau entstand dieses Kinderbild von Gabriele Marhold-Wormsbächer. © Privat

Als „Gefängnis und Folter“ erlebt

Gabriele Marhold-Wormsbächer war 1963 als Sechsjährige mehrere Wochen im Kindererholungsheim der Inneren Mission in Grafenaschau. Die 68-Jährige aus Eschborn bei Frankfurt am Main verbindet diesen Aufenthalt mit unschönen Erinnerungen. „Einmal habe ich erbrochen und musste es – wie andere Kinder – aufessen.“ Die Zeit in Grafenaschau sei für sie wie „Gefängnis und Folter“ gewesen. „Ein Arzt hat meine Hose aufgemacht und reingegriffen. Was er gemacht hat, weiß ich nicht. Ich glaube nicht, dass ich sexuell missbraucht wurde, aber es war höchst unangenehm.“ Marhold-Wormsbächer erzählt beim Redaktionsbesuch auch, dass sie sich Haare ausgerissen habe. Sie spricht von Enge, es habe keine Freiheit gegeben. Die Kinder hätten nur morgens, mittags und abends auf die Toilette gehen dürfen. „Es gab keine Solidarität, ich war immer allein.“ Die anderen Mädchen in ihrem Zimmer waren alle älter. „Einmal hatte ich Hunger und stahl aus dem Schrank ein Osterei“, schildert Marhold-Wormsbächer. „Danach bekam ich eine Strafe, musste einen Tag in meinem Bett verbringen bei Wasser und Brot. Auf die Toilette durfte ich auch nicht, später kotete ich bis zum 14. Lebensjahr regelmäßig ein, wenn ich lange in einem Geschäft warten musste.“ Ihren Teddy musste sie im Kindererholungsheim Grafenaschau abgeben, wiederbekommen hat sie das Kuscheltier nicht.

Von Schüler angegriffen

Zu Hause war nicht alles eitel Sonnenschein. „Es war nicht der Himmel auf Erden.“ Sie sei geschlagen worden. Der Vater war Ingenieur und oft auf Dienstreise. Später arbeitete Marhold-Wormsbächer, die zwei erwachsene Söhne und zwei Enkel hat, als Lehrerin für Musik und evangelische Religion an einer Gesamtschule, sie war auch Schulseelsorgerin. Am 27. Januar 2014 gab es dann einen herben Einschnitt: Sie wurde von einem Schüler angegriffen. Die Lehrerin hatte ihm zum Halbjahr eine Fünf gegeben, da er keine Aufgaben machte und keine Noten lernen wollte. Danach war Marhold-Wormsbächer mehrere Monate in einer Klinik. Unterrichtet hat sie danach nicht mehr. Eine Ärztin sagte ihr, sie sei „retraumatisiert“, weil sie so heftig reagierte. Das Ende vom Lied: „Ich bin mit 58 Jahren in den Ruhestand geschickt worden.“ Von der Inneren Mission wünscht sie sich, dass diese in puncto Kinderverschickung erklärt: „Wir haben da mit- und die Augen zugemacht.“

Andrea Betz, Vorstandssprecherin des Vereins Diakonie München und Oberbayern – Innere Mission München, nennt die „traumatischen Erlebnisse“, von denen Marhold-Wormsbächer berichtet, „schrecklich. Diese Schilderungen von Gewalt und Machtmissbrauch und das Leid, das darin zum Ausdruck kommt, machen betroffen.“

Um die Dinge aufzuklären, sei man auf Informationen von Betroffenen und Zeitzeugen angewiesen, ergänzt Betz. „Insbesondere da zu befürchten ist, dass die historische Materiallage äußerst dünn sein könnte.“ Der Vorstandssprecherin zufolge ist davon auszugehen, dass Akten nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen entsprechend vernichtet wurden und damit nicht mehr zur Aufklärung herangezogen werden können. „Wir sind uns bewusst und verstehen gut, dass es für die Betroffenen von Gewalt äußerst schwierig ist, sich an die Institution zu wenden, in der sie Leid erfahren haben.“ Die Diakonie München und Oberbayern – Innere Mission München möchte sie dennoch ermutigen, Kontakt aufzunehmen. „Wir möchten aufklären und unterstützen und ihnen versichern: Wir nehmen Sie ernst. Wir hören ihnen zu. Wir erkennen ihr Leid an. Wir übernehmen Verantwortung.“

Diakonie will „schonungslos aufklären“

Inwiefern beteiligt sich die Organisation an der Aufarbeitung von Vorkommnissen, die in Verschickungsheimen passierten? „Als Diakonie München und Oberbayern haben wir uns dazu entschlossen, Fälle von Missbrauch und Gewalt transparent und schonungslos aufzuklären“, sagt Pressesprecherin Christine Richter. Der Aufsichtsrat und Vorstand entschied ihr zufolge 2024, eine institutionelle Aufarbeitung auf den Weg zu bringen. „Der Prozess befindet sich derzeit in der Initiierungsphase. Damit will die Diakonie München und Oberbayern aufklären, wo und in welchem Ausmaß Menschen Gewalt, sexualisierte Gewalt, Machtmissbrauch und Grenzverletzungen in unseren Einrichtungen erlebt haben.“

Marhold-Wormsbächer hat auch Schwaigens Bürgermeister Hubert Mangold (UVV) kontaktiert. „Mir geht das sehr nahe“, betont der Rathauschef. Doch Unterlagen zu dem ehemaligen Kinderkurheim habe die Gemeinde nicht. Er will sich bei der 68-Jährigen melden, sobald er etwas in den Händen hat.

Von wann bis wann es das Kindererholungsheim Grafenaschau, vermag die Diakonie/Innere Mission auf Tagblatt-Nachfrage nicht zu sagen. „Wir werden prüfen, welche Informationen über den Lindenhof noch in unseren Unterlagen vorhanden sind“, teilt Richter mit. Was sie weiß: 1898 erwarb die Innere Mission den Lindenhof, der zu „einem Erholungsort für Jung und Alt“ ausgebaut wurde. Später machte sie ein Seniorenheim daraus. Der Bau wurde vor ein paar Jahren abgerissen.

Auch interessant: Strenges Regiment im ehemaligen Jugendkurheim Hochried

Auch interessant

Kommentare