Jetzt taumelt ein wichtiger Pfeiler von Deutschlands industrieller Zukunft

Die Wut ist groß in Bremen. Mehr als 1000 Beschäftigte des Stahlkonzerns Arcelor Mittal zogen dort am Dienstag gegen ihren eigenen Arbeitgeber auf die Straße. Von „Unsicherheit, Sorgen und auch Wut“ sprach etwa Stahlbauschlosser Murat Develioglu bei der Versammlung des Betriebsrats und der Gewerkschaft IG Metall. „Wir zeigen hier heute, dass wir nicht jede Entscheidung des Konzerns geräuschlos hinnehmen.“ 

Aber was war passiert? Arcelor Mittal hatte vergangene Woche mitgeteilt, die Umstellung auf „grüne“ Stahlproduktion in Bremen und Eisenhüttenstadt in Brandenburg nicht weiterzuverfolgen. Was damit gemeint ist: Der Konzern wollte seinen Stahl zukünftig mit Wasserstoff erzeugen, der aus erneuerbaren Energien wie Windkraft oder Solarstrom gewonnen wird. Bislang wird Stahl mit Hilfe von klimaschädlicher Kohle produziert.

Nicht wirtschaftlich trotz Milliardenförderung

Für die deutschen Klimaziele ist eine Umstellung der Stahlproduktion von entscheidender Bedeutung – die Stahlbranche ist eine der größten CO2-Emittenten in Deutschland. Auch für die Konzerne ist die Transformation aufgrund eines stetig steigenden CO2-Preises auf fossile Energieträger langfristig alternativlos. Doch kurz- und mittelfristig ist sie für die Industrie erstmal mit gewaltigen Kosten verbunden.

Aufgrund der Marktsituation und der fehlenden Wirtschaftlichkeit einer CO2-reduzierten Stahlproduktion könnten die Investitionen nicht weitergeführt werden, erklärte der Konzern am Donnerstag. Und das trotz großzügiger Fördergelder: Insgesamt 1,3 Milliarden Euro hatten Bund und Länder für den Umbau in Bremen und Eisenhüttenstadt zugesagt. Die Förderung wird nun nicht ausgezahlt.

Wut im Bauch: Mitglieder der Belegschaft des Bremer Stahlwerkes von ArcelorMittal versammeln sich am Dienstag vor dem Verwaltungsgebäude des Werkes
Wut im Bauch: Mitglieder der Belegschaft des Bremer Stahlwerkes von ArcelorMittal versammeln sich am Dienstag vor dem Verwaltungsgebäude des Werkes Sina Schuldt/dpa

„Kein überlebensfähiges Geschäftsmodell“

Doch selbst mit den staatlichen Subventionen rechne sich die Umstellung auf grünen Wasserstoff erstmal nicht, heißt es aus dem Unternehmen. „Die Rahmenbedingungen ermöglichen aus unserer Sicht kein belastbares und überlebensfähiges Geschäftsmodell“, sagte Reiner Blaschek, Chef der europäischen Flachstahlsparte von ArcelorMittal. „Die Förderung ist an strenge Vorgaben für den raschen Einsatz von grünem Wasserstoff geknüpft. Verfügbarkeit und Preise von grünem Wasserstoff sind jedoch mit großen Unwägbarkeiten verbunden. Daraus ergeben sich erhebliche Risiken.“

Tatsächlich sind unter Expertinnen und Experten die Zweifel groß, ob es in absehbarer Zeit genügend bezahlbaren grünen Wasserstoff für den Einsatz in der deutschen Industrie geben wird. Eine gemeinsame Studie des Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) der Universität Bonn und des Energiewirtschaftlichen Institute (EWI) der Universität Köln hatte erst im April ergeben, dass die EU im Jahr 2030 über weniger eigenproduzierten grünen Wasserstoff verfügen wird als politisch geplant. 

Gerade in Deutschland ist die Produktion von grünem Wasserstoff teuer, energieintensiv und wirtschaftlich unsicher. Im November des vergangenen Jahres waren in Deutschland nach Recherchen von FOCUS online Earth erst fünf sogenannte Elektrolyseure zur Produktion von Wasserstoff in Betrieb. 

Der große Teufelskreis

Die Folge: Industriebetriebe zögern bei der Adaption der neuen Technologie. Dadurch wiederum entgehen der Wasserstoff-Branche dringend benötigte Aufträge, mehr Hersteller gehen pleite, die Produktionskapazitäten sinken – was die Industrie nur noch mehr ins Grübeln bringt.

Ein Teufelskreis entsteht. Ebenfalls am Dienstag verkündete der Energieversorger EWE den Stopp seiner Pläne für eine große Wasserstoffanlage in Bremen. Grund für die Entscheidung seien die aktuellen Marktbedingungen, teilte das Unternehmen mit – die Anlage hätte die klimaneutrale Stahlproduktion in der Hansestadt unterstützen sollen. 

Die Konkurrenz hält Kurs

Ist grüner Stahl in Deutschland also am Ende? Die deutsche Konkurrenz von Arcelor Mittal setzt weiterhin auf die Transformation. Branchenprimus Thyssenkrupp Steel will in Duisburg weiterhin eine Anlage für grünen Stahl errichten. Man halte an dem Plan fest, sagte ein Firmensprecher am Freitag auf Anfrage. Gleichzeitig verwies er jedoch darauf, dass man sich mit dem Projekt „an der Grenze der Wirtschaftlichkeit“ bewege. Auch die Hersteller Salzgitter sowie SHS aus dem Saarland setzen weiterhin auf grünen Stahl. 

Und in Bremen und Eisenhüttenstadt? Dort wolle sich Arcelor Mittal zunächst auf die Planung zum Bau von sogenannten Elektrolichtbogenöfen konzentrieren, hieß es – um vorbereitet zu sein, wenn die Produktion wirtschaftlich sinnvoll sei. Elektrolichtbogenöfen sind strombasiert.

„Tief enttäuscht und stinksauer“

In Bremen hat man die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Er sei zwar „tief enttäuscht und stinksauer“, sagte Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) am Dienstag der Belegschaft.  Die Beschäftigten und die Politik hätten lange für den Umbau des Stahlwerks gekämpft. 

Doch der Senat werde auch in Zukunft nicht locker lassen, versprach Bovenschulte. „Denn seit 100 Jahren wird in Bremen Stahl produziert und seit 100 Jahren steht die Landesregierung in guten und in schlechten Zeiten fest an der Seite der Beschäftigten.“ 

Die Politik müsse endlich für wettbewerbsfähige Strompreise und ausreichend Wasserstoff sorgen, forderte der Betriebsratsvorsitzende Mike Böhlken. Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, werde der Konzern die Pläne für „grünen Stahl“ in Bremen wieder aufnehmen. „Wir müssen weiter dafür kämpfen“, sagte Böhlken. „Stahl hat Zukunft!“, rief er in die Menge. Ein Arbeiter seufzte. „Ja, aber nicht hier“, sagte er leise – und wandte sich ab.