Die Memoiren-Tour sorgt für diplomatische Verstimmungen. Merkel beschuldigt baltische Staaten und Polen. Estland kontert jetzt mit scharfer Kritik.
Berlin/Tallinn – Auf ihrer Memoiren-Tour durch Europa sorgt Angela Merkel für diplomatische Verstimmungen. Die frühere Bundeskanzlerin hat öffentlich gemacht, dass baltische Staaten und Polen ihre Pläne für einen direkten EU-Dialog mit Wladimir Putin blockierten – nur Monate vor dem russischen Überfall auf die Ukraine. Besonders in Estland lösen ihre Äußerungen nun scharfe Reaktionen aus.

Die ehemalige CDU-Kanzlerin hätte sich vor dem russischen Angriff auf die Ukraine einen direkteren Dialog der Europäischen Union mit Präsident Wladimir Putin gewünscht. Im Sommer 2021 habe sie gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ein neues Gesprächsformat angestrebt, „dass wir mit Putin direkt als Europäische Union sprechen“, so Merkel in einem Interview mit dem ungarischen Portal Partizán.
Merkel-Memoiren sorgen für Eklat: Estland reagiert empört auf Aussagen der Ex-Kanzlerin
Merkel begründete ihren damaligen Vorstoß mit der Entwicklung des Minsk-Abkommens. Sie habe gespürt, „dass das Minsk-Abkommen nicht mehr ernst genommen wird“. Das Aushandeln des 2015 geschlossenen Friedensabkommens zur Beendigung der Kämpfe in der Ost-Ukraine sei zwar richtig gewesen. Doch „nur wir hatten dann in Corona eben keinerlei Möglichkeit mehr, uns mit Putin direkt auszutauschen, und das war sehr schlecht für die weitere Entwicklung“, erklärte die Ex-Kanzlerin.
Der Plan für direkte EU-Gespräche mit Putin sei damals jedoch „von einigen nicht unterstützt“ worden. „Das waren vor allen Dingen die baltischen Staaten, aber auch Polen war dagegen, weil sie Angst hatten, dass wir keine gemeinsame Politik gegenüber Russland haben“, führte Merkel aus. Ihre Meinung sei gewesen, man müsse dann eben daran arbeiten, eine gemeinsame Politik zu entwickeln. „Auf jeden Fall ist es nicht zustande gekommen, und ja, dann bin ich aus dem Amt geschieden, und dann hat die Aggression Putins begonnen. Wir werden heute nicht mehr klären können, was gewesen wäre, wenn“, sagte Merkel.
Estlands Außenminister Tsahkna empört: Merkels Aussagen „unverschämt und falsch“
Estlands Außenminister Margus Tsahkna wies Merkels Aussagen scharf zurück. Diese seien unverschämt und falsch. Der Grund für Russlands umfassende Aggression sei Putins Unfähigkeit, den Kollaps der Sowjetunion zu akzeptieren, sowie der frühere Wunsch westlicher Länder, mit Putin zu verhandeln und seine Taten zu ignorieren. Dies teilte er über das Außenamt in Tallinn mit. Weder der Krieg in Georgien 2008 noch die Annexion der Krim 2014 seien auf starke Reaktionen gestoßen.
„In unserer Region wurde Russlands wahre Natur schon früh erkannt, und es wurde vor den von Russland ausgehenden Gefahren gewarnt“, erklärte Tsahkna. Die westliche Welt habe dies jedoch ignoriert. Deutschland habe unter Merkels Führung zudem die Kosten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland falsch eingeschätzt. Durch die Eröffnung der Nord-Stream-Pipeline habe das Land dazu beigetragen, energieabhängig von Russland zu bleiben.
Auch Lettland und Litauen kritisch: Merkels Interview mit Partizán löst breite Empörung aus
Auch in Lettland und Litauen stießen Merkels Äußerungen auf Kritik. Das Interview mit dem Journalisten von Partizán war bereits vor einigen Tagen online veröffentlicht worden. Merkel hatte sich am 1. Oktober in Budapest aufgehalten, um dort für die ungarische Übersetzung ihrer Memoiren zu werben.
Eine Sprecherin Merkels stellte am Montag (6. Oktober) auf Anfrage klar, die Aussagen der früheren Kanzlerin seien „nicht neu“. Bei einer Veranstaltung im Juni 2022 habe sich Merkel bereits entsprechend zur Lage im Juni 2021 geäußert. Die Haltung der baltischen Staaten und Polens zu einem Dialog mit Putin hatte sie damals allerdings nicht erwähnt. (Quelle: dpa) (tpn)