„Misstrauen gegenüber politischer Energie“: Warum Deutschland ein schwieriges Verhältnis zu Protest hat
„Dürfen die das?“, ist hierzulande oft die erste Frage, wenn Menschen rebellieren. Woher das kommt und warum das wichtig ist, erklärt der Autor Friedemann Karig.
Seit Wochen begehrt Deutschland auf. Neben diversen Streiks und den Bauernprotesten sind es vor allem die Demonstrationen gegen rechts und die AfD, die die Straßen mit Menschenmassen füllen. Das ist ungewöhnlich für deutsche Verhältnisse. Aber warum eigentlich?
Während die Protestkultur in anderen Länder wie Frankreich zur DNA gehört, ist es in Deutschland in den letzten Jahrzehnten vergleichsweise ruhig geblieben. Wieso das so ist, und wie Protest tatsächlich funktioniert, damit hat sich der Autor Friedemann Karig beschäftigt.

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„Die größten Errungenschaften unseres Zusammenlebens wurden durch Protest erstritten“
Aktuell arbeitet Karig in den USA im Thomas-Mann-House (Los Angeles). Dort forscht er auf den Spuren von Martin Luther King und Mahatma Gandhi über Protest. „Die größten Errungenschaften unseres sozialen und politischen Zusammenlebens, Demokratie und Wahlrecht oder freie Meinungsäußerung, wurden durch Protest erstritten. Und dennoch sind wir in Deutschland so skeptisch gegenüber Protest“. Sein Buch, „Was ihr wollt. Wie Protest wirklich wirkt“, das sich mit den Mechanismen und der Wirkung kollektiven Aufbegehrens beschäftigt, erscheint Mitte März. Ein paar Erkenntnisse aus seinen Recherchen teilt Karig mit BuzzFeed News Deutschland, einem Portal von Ippen.Media, schon vorab.
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Woher unser „Misstrauen gegenüber politischer Energie“ kommt
„In Deutschland haben wir ein großes Misstrauen gegenüber politischer Energie“, erklärt Karig. „Wir sind misstrauisch, wenn sich etwas zusammenbraut und dann entlädt. Was verständlich ist, angesichts der Historie.“
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Karig verweist auf Thomas Mann, der 1944 in seinen Tagebüchern schrieb: „Man soll nicht vergessen und sich nicht ausreden lassen, dass der Nationalsozialismus eine enthusiastische, funkensprühende Revolution, eine deutsche Volksbewegung mit einer ungeheuren seelischen Investierung von Glauben und Begeisterung war.“
Karig erklärt, sehr viele Leute haben damals daran geglaubt, dass sich ihre Lage verbessern würde. „Auch deswegen sind wir bis heute in Deutschland mit gutem Grund sehr vorsichtig gegenüber der Energie der Massen. Wer gar von einer ‚Revolution‘ spricht, muss sich doppelt beweisen, dass er nichts Schlechtes damit meint.“
„Wenn meine Freunde hingehen und sagen, das bringt was“ – so funktioniert Protest langfristig
Damit sich die aktuelle Tendenz des Protests in Deutschland verstetigt, sei nun vor allem ein höherer Grad an Organisation und Engagement wichtig. „Menschen müssen die Bereitschaft zeigen, Ehrenämter zu übernehmen, sich in Verbänden zu organisieren, in eine Partei einzutreten und Verantwortung zu übernehmen.“
Dabei sei ein wichtiger Faktor laut Karig das Gruppenbewusstsein der Selbstwirksamkeit. „Die Leute müssen glauben, dass sie etwas bewegen können. Sie müssen diese Gruppe kennen und gut finden. Die größte Wahrscheinlichkeit, dass es funktioniert, ist, wenn meine Freunde hingehen und sagen, das bringt was.“ Tritt das ein, seien „die Kosten, im April nicht mehr hinzugehen, für den Einzelnen hoch, weil sein gesamtes soziales Umfeld auch dort hingeht“, erklärt der Autor.
Die Letzte Generation klebt nicht mehr – warum sich Protest verändert
Es sei auch völlig normal, dass sich Protest weiterentwickelt, sagt Karig zu Veränderungen bei der Letzten Generation oder der Allianz zwischen Fridays For Future und der Gewerkschaft Verdi. „Wir haben sehr viel über die Letzte Generation und ihre Mittel diskutiert, das ist ein sehr deutsches Ding. ‚Dürfen die das?‘, wie oft kam diese Frage auf.“ Aber: „Die Diskussion um die Mittel ist normal. Wenn man sich Martin Luther King genauer ansieht, erkennt man das gut. Wir denken, er hat diese eine tolle Rede geschrieben und damit die weiße Mehrheitsgesellschaft überzeugt. Das stimmt nicht. Er hat 15 Jahre lang über die richtigen Mittel diskutiert.“
Die Fraktion der Bürgerrechtsbewegung um den Aktivisten Malcom X habe sogar über Waffengewalt gesprochen. „Und irgendwann haben sie gemerkt, was funktioniert: der Druck auf die Wirtschaft. Erst nachdem sie den Schmerzpunkt gefunden hatten, hat sich die weiße Mehrheitsgesellschaft bewegt.“
Protest zu den Widersachern der Geschichte tragen
Besonders für die Letzte Generation sei Veränderung bei der Wahl der Mittel laut Karig wichtig. „Ich glaube, sie tun das Richtige, wenn sie den Protest jetzt zu den Antagonisten der Geschichte tragen. Bis jetzt haben sie sich selbst zu Antagonisten gemacht, weil die ganze Nation auf sie sauer war.“
Auch die Allianz zwischen Fridays For Future und Verdi sei ein „kluger Schritt“. „Sie wollen zeigen, dass alle ihre Mitstreiter sein können. Und Fridays For Future war in erster Linie ein Streik. Insofern gibt es auch eine taktische Verwandtschaft.“
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