„Schreckliches Muster“: Russland setzt in der Ukraine wohl auf grausame Double-Tap-Taktik
Russland feuert Rakete um Rakete und Drohne um Drohne auf die Ukraine ab. Manchmal in kurzem Abstand auf dasselbe Ziel. Um Retter zu treffen.
Kiew – Als Wladimir Putin seine Truppen losschickte und damit den Ukraine-Krieg entfachte, stellte der Kreml-Chef klar: Die Zivilbevölkerung des Nachbarlandes hat nichts zu befürchten. Ein Versprechen, das der Realität nie wirklich standhielt. Neue Zahlen verdeutlichen nun aber, wie perfide Russland bei seinen beinahe pausenlosen Luft-Attacken auf zivile Einrichtungen vorgeht.
Russland und der Ukraine-Krieg: Mit Double Tap hat Moskau schon 91 Retter getötet
Wie der ukrainische öffentlich-rechtliche Rundfunksender Suspilne unter Berufung auf den Pressedienst des Staatlichen Notdienstes der Ukraine berichtet, kamen bei russischen Doppelangriffen – im Militärischen bekannt als Double Tap – seit Beginn der Invasion bereits 91 Retter ums Leben, 348 Ersthelfer wurden verletzt.
Der Aggressor beschießt also ein Ziel kurz nacheinander zweimal: Zunächst völlig unvermittelt, um Infrastruktur und Unschuldige zu treffen, mit dem zweiten Schlag sollen dann vor allem herbeigeeilte Ersthelfer, die Verletzte suchen oder versorgen, ins Visier genommen werden. Sie sollen es also bereuen, sich selbstlos in Gefahr zu begeben, um für andere da zu sein.
Raketenangriff auf Charkiw: Drei Helfer sterben – Sohn aus Feuerwehrfamilie trauert um getöteten Vater
Diese Taktik wählte Russland demnach auch in der Nacht auf den 4. April bei einem Angriff auf Charkiw. Ihr fielen drei Retter zum Opfer, ein weiterer erlitt ernste Verletzungen. Zwei von ihnen starben an Ort und Stelle, der dritte auf dem Weg in eine Klinik, wie der Sprecher des Notdienstes der Oblast Charkiw mitgeteilt habe.
Es soll sich um einen 52-Jährigen, einen 41-Jährigen und einen 32-Jährigen gehandelt haben. Der älteste von ihnen war demnach mit seinem Sohn zum Ort des Einschlags geeilt, um zu helfen. Beide sollen nur wenige Türen voneinander entfernt gearbeitet haben, als der zweite Einschlag erfolgte. Der Sohn soll sofort nach seinem Vater geschaut haben, doch jede Hilfe kam zu spät.
Innenminister klagt Russland an: „Retter in höllischer Nacht auf zynische Weise getötet“
Innenminister Ihor Klymenko veröffentlichte ein Video in den sozialen Medien, auf dem inmitten der Zerstörung ein junger Mann in Feuerwehruniform zu sehen ist. Er kniet und lässt seiner Trauer freien Lauf. Während ihn zwei andere Männer mit Helm und Uniform zu trösten versuchen, setzt er Helm und Flammenschutzhaube ab.
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„Es ist unmöglich, dass einem diese Aufnahmen nicht ans Herz gehen“, schreibt der Politiker: „Ein junger Feuerwehrmann weint an der Einschlagstelle, an der Russland wenige Minuten zuvor seinen Vater, einen 52-jährigen Retter, auf zynische Weise getötet hat.“ Es sei eine „höllische Nacht“ gewesen. Charkiw gerät derzeit ohnehin besonders schwer unter Beschuss.
Klymenko hatte bereits am 15. November 2023 via Telegram öffentlich gemacht, dass in der Nacht zuvor zwei Mitarbeiter des Rettungsdienstes starben, als während ihres Einsatzes ein zweiter russischer Angriff erfolgte. Er sprach von „unbewaffneten Helden“, die beiden wurden 31 und 34 Jahre alt.

Russland greift Ukraine aus der Luft an: „Schreckliches Muster, um Ersthelfer und Journalisten zu töten“
Bei einem Bombardement mit zwei Iskander-M-Raketen am 15. März in Odessa waren laut Kyiv Independent unter den mindestens 20 Toten auch ein Ersthelfer, ein Sanitäter und mehrere Polizisten. Suspilne erwähnt zudem einen Double-Tap-Angriff im vergangenen Jahr in Pokrowsk in der Region Donezk und erst kürzlich in Saporischschja.
Nach jener Aktion, die Anfang April drei Menschen das Leben kostete, meldete sich die US-Botschafterin in Kiew, Bridget Brink, zu Wort. „Russland hat heute Saporischschja attackiert und drei Menschen durch Raketenangriffe im Abstand von 40 Minuten getötet – ein schreckliches Muster, das offenbar darauf abzielt, Ersthelfer und Journalisten vor Ort zu töten“, schimpfte sie auf Twitter. Weiter betont sie: „Russland muss für diese Verbrechen gegen ukrainische Zivilisten zur Verantwortung gezogen werden.“
Russland orientiert sich laut Experte an Syrien: „Medizinische Einrichtungen auf der Liste ihrer Ziele“
Marc Garlasco, ehemaliger UN-Ermittler und heutiger Leiter des Assessment and Investigation Support im Civilian Protection Center of Excellence, verglich das russische Vorgehen bereits im Dezember 2023 mit der Taktik des syrischen Regimes von Machthaber Baschar al-Assad.
„Die Regierungen von Syrien und Russland nehmen medizinische Einrichtungen auf die Liste ihrer Ziele auf“, sagte der 53-Jährige dem US-Radiosender NPR und verwies auf Bomben, die auch Treppen und Eingangsbereiche einstürzen lassen würden: „Die Russen wenden in der Ukraine das an, was sie in Syrien gelernt haben.“ So werde auch verhindert, dass Verletzte medizinisch versorgt werden könnten.
Putins Angriff auf die Ukraine: Notdienste schon zu mehr als 140.000 Einsätzen ausgerückt
Es kann also keine Zweifel geben, dass Putin es auf die Zivilbevölkerung abgesehen hat. Weil die Menschen in der Ukraine ihn offensichtlich nicht so begeistert empfangen, wie sich der 71-Jährige das bei seinem Einmarschbefehl erwartet hatte. Putins Enttäuschung über die Zurückweisung bekommen die Ukrainer, die sich ein Leben ohne russischen Einfluss wünschen, nun also tagtäglich zu spüren.
Nach Angaben des Staatlichen Notdienstes der Ukraine vom Montag (8. April) gab es seit Beginn der russischen Invasion 143.391 Einsätze, bei denen 18.244 Brände gelöscht und 4969 Menschen gerettet wurden. Zudem sei 241.607 Menschen psychologische Hilfe geleistet worden.
Vier Tage zuvor teilte der Notdienst mit, rund 156.000 Quadratkilometer und damit mehr als ein Viertel der Landesfläche sei von Russland potenziell vermint worden. Dadurch seien täglich Opfer zu beklagen, auch Kinder und alte Personen. Zum Vergleich: Es handele sich um eine Fläche von der Größe von halb Deutschland oder halb Italien. Putin hat also seine Spuren längst hinterlassen. Viele davon sind sichtbar, aber längst nicht alle. (mg)