Gemeinsamer Griff nach den globalen Reserven: Auch Estland will jetzt Granaten spenden
Der Wettlauf im Gefecht spiegelt den Wettlauf in der Logistik: Russland und die Ukraine verbrauchen gerade den Vorrat der Welt an Artilleriegranaten.
Tallinn – „Wir sprechen über das Jahr 2027?“, fragt die Tagesschau. „Ja“, sagt Rafael Loss zum vermeintlichen Versand der ersten Artillerie-Granate aus dem neu errichteten Rheinmetall-Werk im niedersächsischen Unterlüss in den Ukraine-Krieg. Drei Jahre wird die Ukraine noch knapsen müssen, vermutet der Wissenschaftler der Denkfabrik European Council on Foreign Relations in Berlin.
Obwohl die estnische Tageszeitung Postimees jetzt über einen Silberstreif am Horizont berichtet: Der estnische Verteidigungsminister Hanno Pevkur kündigte darin an, baldmöglichst zwischen 50 und 150 Millionen Euro in Munition für die Ukraine investieren zu wollen.
Estland will Granaten für die Ukraine kaufen
Bereits im März hatte die estnische Regierung ihren Willen kundgetan, Granaten zu kaufen, und damit eine weitere Stimme zum Chor der kleinen Unterstützer beigesteuert: Island und Slowenien beteiligen sich ebenfalls an der tschechischen Initiative zum Kauf von Artilleriemunition für die Ukraine aus Drittstaaten, wie Radio Prague International berichtet hat. Laut dem isländischen Außenminister Bjarni Benediktsson will sich sein Land mit rund zwei Millionen Euro an dem Projekt beteiligen. Die slowenische Regierung teilte bisher keine Summe mit. Tschechien war kürzlich vorgeprescht mit dem Willen, bis zu einer Million Granaten aus Drittstaaten für die Ukraine zu besorgen.
„Wir haben die Möglichkeit, Granaten für die Ukraine zu kaufen, auch in großen Mengen und schnell. Hauptsächlich aus außereuropäischen Ländern, aber es gibt auch einige in Europa.“
„Wenn wir die eine Million Granaten der EU, die tschechische Initiative, unsere Kaufkapazitäten und auch die britischen Optionen kombinieren, wage ich zu behaupten, dass es möglich wäre, der Ukraine in diesem Jahr zwei bis 2,5 Millionen Granaten zu schicken“, so Pevkur gegenüber Postimees. „Wir haben die Möglichkeit, Granaten für die Ukraine zu kaufen, auch in großen Mengen und schnell. Hauptsächlich aus außereuropäischen Ländern, aber es gibt auch einige in Europa.“ So könnte Munition für die ukrainische Armee im Wert von etwa zwei bis drei Milliarden Euro beschafft werden, wenn die Verbündeten dafür Mittel bereitstellen würden, sagte Pevkur.
Ukrainische Gegenoffensive: 4000 bis 7000 Granaten – pro Tag
800.000 Schuss Artilleriemunition sollen allein aus Tschechien kommen – „das sind mehr, als ganz Europa 2023 produziert hat“, schreibt die Neue Zürcher Zeitung. Die Ankündigung von Tschechiens Präsident Petr Pavel, sein Land werde eine solche Lieferung innerhalb weniger Wochen organisieren und in die Ukraine transportieren, sorgt deshalb für Aufsehen. Laut NZZ verschossen die Ukrainer allein im Sommer 2023 während ihrer Gegenoffensive 4000 bis 7000 Granaten – pro Tag. Mit 2,5 Millionen zusätzlichen Granaten und Raketen bis zum Jahresende 2024 könnten die Ukrainer die eigene Munitionsversorgung decken, behauptet Pevkur; seit mehr als einem Jahr könnten die Ukrainer damit wieder so intensiv zurückschießen wie die Russen angreifen. Aktuell soll die Ukraine ihr Abwehrfeuer um mehr als zwei Drittel der ursprünglichen Intensität gedrosselt haben.
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Pevkur sagte, dass die neuen Granaten das 155-Millimeter-Kaliber nach Nato-Standard sowie das 152-Millimeter-Kaliber des ehemaligen sowjetischen Standards besäßen. Ergänzt werde dies um BM-21-Grad-Raketen, was darauf hindeutet, dass die Esten teilweise auf Länder in Osteuropa und auf dem Balkan abzielen, wie das Magazin Forbes vermutet. Auch afrikanische Länder könnten Kandidaten sein. Berichten zufolge bezieht die tschechische Initiative Munition aus Südkorea, Südafrika und der Türkei. Die Quellen der Lieferung will Pevkur geheim halten. „Hauptsächlich aus außereuropäischen Ländern“, sagte er Postimees, „aber es gibt auch einige in Europa.“
Wettlauf der Logistik: Russland braucht die gleichen Granaten wie die Ukraine
Munitionsmangel führte maßgeblich zum Rückzug der ukrainischen Garnison aus der östlichen Stadt Awdijiwka, nachdem sie bis Mitte Februar fünf Monate Widerstand geleistet hatte. Da die Russen den Munitionsmangel der Ukrainer wohl nutzen wollten, stießen sie danach weiter westlich von Awdijiwka vor. Doch die anhaltenden Angriffe fielen mit dem Start der tschechischen Artillerie-Initiative zusammen. „In der Zuversicht, dass weitere Granaten eintreffen würden, griffen die ukrainischen Kanoniere offenbar auf ihre Not-Munitionsreserven zurück – und erhöhten ihre Feuerrate“, schreibt Forbes und zitiert die Analytiker von Frontelligence Insight: „Diese Verbesserung hat es der Ukraine ermöglicht, den Verlust wichtiger Verteidigungspositionen im Osten zu verhindern und weitere russische Vorstöße zu verlangsamen.“
„Der Bedarf an Artilleriegranaten, damit die Ukraine wieder in die Offensive kommen kann, liegt bei etwa 5000 bis 6000 Schuss pro Tag“, sagt der Wissenschaftler Loss in der Tagesschau. Gerade die Munition für die alten sowjetischen Geschütze würden allerdings global knapper, sagt er: Geschosse vom Kaliber 152 Millimeter oder die kleineren mit 122 Millimeter seien international nur noch in begrenzten Mengen verfügbar, und die Länder, die diese Munition zur Verfügung stellten, müssten danach auch für sich Ersatz beschaffen. „Der einzige Lieferant wäre dann in vielen Fällen Russland. Und Russland ist selbst auf den Weltmärkten unterwegs, um einerseits seine eigenen Bestände aufzufüllen und andererseits der Ukraine Munition vor der Nase wegzukaufen.“ (kahi)