Russland testet eine effizientere Waffe: KH-69 heißt deren neuer Marschflugkörper. Er fliegt weiter und niedriger. Die Verteidiger bleiben gelassen.
Kiew – Sie werden „die Kriegsführung revolutionieren“, feierten US-Militärs 2021 ihren Einstieg in die Entwicklung von Hyperschallwaffen, wie Spektrum der Wissenschaft berichtet; die USA reagierten damit auf die Ansprache Wladimir Putins vor rund sechs Jahren, Raketen mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit zu produzieren; im Ukraine-Krieg sind diese als „Kinschal“ (zu Deutsch: „Dolch“) bereits im Einsatz – und wirken gegen die Patriot-Abwehrraketen alles andere als revolutionär. Deshalb setzt Russland jetzt wieder auf Unterschall-Raketen. Sowohl ukrainische als auch russische Quellen haben bestätigt, dass Russland am 11. April bei den Angriffen auf das Wärmekraftwerk Trypilska, rund 40 Kilometer von der Hauptstadt Kiew entfernt, einen neuen Marschflugkörper eingesetzt hat.
Der Marschflugkörper KH-69 ist eine verbesserte Version der KH-59 mit längerer Reichweite, die nicht nur von strategischen Bombern, sondern auch von kleineren taktischen Flugzeugen wie der Suchoi Su-34 und Su-35 abgeschossen werden kann. „Wie die Praxis gezeigt hat, kann der Einsatz dieser Rakete durch die Russen im Hinblick auf ihre Folgen für die Ukrainer gefährlicher sein als der Einsatz der KH-47M2 Kinschal-Rakete“, behauptet jetzt das Magazin Defense Express. Zwei Eigenschaften hat Russlands neue Bedrohung den bisherigen Waffen voraus: ihre Reichweite und die niedrige Flughöhe.
„Höchstwahrscheinlich wird das Patriot-Luftverteidigungssystem auch in der Lage sein, ihr entgegenzuwirken, da es bereits gegen weitaus ausgefeiltere Raketen seine Stärke bewiesen hat: gegen Raketen, wie die Hyperschallraketen Zirkon und Kinschal“.
Der KH-69-Marschflugkörper soll eine Strecke von 400 Kilometern zurücklegen können und das in einer Flughöhe von rund 20 Metern; das erweitert nicht nur dessen Radius, sondern erschwert der Flugabwehr auch das Aufspüren des Objekts. Defense Express schreibt, dass diese Marschflugkörper als „Neuverpackung“ der KH-59MK2 betrachtet werden können, allerdings mit einigen strukturellen Unterschieden: Die Rakete habe jetzt einen kastenförmigen Rumpf mit trapezförmigem Querschnitt, der so zugeschnitten sei, dass er in den Waffenschacht der Su-57 passe. An der Oberseite des Körpers befände sich ein Paar herausklappbarer Flügel mit vier Flossen an der Rückseite, die sich erst im Flug entfalteten.
KH-69: Sie fliegt schnell, fliegt tief und fliegt weitestgehend unsichtbar
The Warzone hatte bereits im Februar weitere Details veröffentlicht: ein Gewicht von etwas mehr als einer dreiviertel Tonne, eine Betriebsgeschwindigkeit von bis zu 1.000 Kilometern pro Stunde – Schallgeschwindigkeit liegt bei rund 1.200 Kilometern pro Stunde – und die Option eines Penetrations- oder Streugefechtskopfs mit einem Gewicht von bis zu 350 Kilogramm. Der genaue Grad der geringen Sichtbarkeit ist nach Recherchen von The Warzone unklar, aber die Form der Waffe soll ein gewisses Maß an reduzierter Radarsignatur bieten.
Falscher Hype um den Hyperschall
Oft wird behauptet, Hyperschallwaffen verkürzten die Zeit, in der ein Gefechtskopf an sein Ziel gebracht werden kann. Die Einschätzung beruht größtenteils auf einem irreführenden Vergleich mit Unterschall-Marschflugkörpern oder mit den außerordentlich lang gezogenen Bahnkurven ballistischer Raketen. Die energieeffizienteste Bahn eines ballistischen Flugkörpers schickt den Sprengkopf in einem Bogen hoch über die Erde, bevor er auf sein Ziel fällt. So ist er auf dem größten Teil der Bahn zwar wenig Luftwiderstand ausgesetzt, legt aber viel mehr Strecke zurück als ein Hyperschallgleiter. Darum kann er etwas mehr Zeit benötigen, bis er das gleiche Ziel erreicht.
Allerdings kann eine ballistische Rakete stattdessen ebenso in geringerer Höhe auf einer „abgesenkten Bahn fliegen. Sie gilt schon lange als Mittel der Wahl für schnelle Nuklearschläge von U-Booten aus. Eine solche Bahn wäre viel kürzer als eine mit minimaler Energie, und sie würde ebenfalls zum größten Teil durch Abschnitte ohne nennenswerten Luftwiderstand führen. Im Gegensatz dazu verbringt ein Hyperschallgleiter wesentlich mehr Zeit in der abbremsenden Atmosphäre. Somit kann ein Gefechtskopf mit einer ballistischen Rakete auf einer abgesenkten Bahn mit gleicher oder sogar kürzerer Flugzeit über dieselbe Distanz befördert werden.
Quelle: David Wright und Cameron Tracy in Spektrum der Wissenschaft
Sehr wahrscheinlich sei die KH-69 tatsächlich speziell für die Su-57 entwickelt worden, aber der Hersteller gibt wohl an, dass sie auch von der MiG-29K, MiG-35, Su-30MK, Su-34 und Su-35 transportiert werden könne. Russland hat die letzten beiden Flugzeug-Typen im Krieg in der Ukraine in großem Umfang eingesetzt. Der Defense Express sieht darin eine beunruhigende Nachricht für die ukrainischen Verteidiger.
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KH-69: Viele Flugzeuge zum Transport vorhanden, aber die Bauteile könnten fehlen
Der Abschuss der KH-69-Rakete von den Flugzeugen Su-34 oder Su-35 kann darauf hindeuten, dass Russland eine Menge dieser neuen Marschflugkörper einsetzen könnte, da eine größere Anzahle Träger vorhanden sei. Das setzt aber voraus, dass die Russische Föderation die Serienproduktion dieser Waffe bereits aufgenommen hat wobei das Magazin auch wieder beschwichtigt, denn, so Defense Expresse, „im Moment geht es höchstwahrscheinlich um den Einsatz von Testchargen und nicht um eine Fertigungskapazität zur Auffüllung der Lagerbestände“. Allerdings soll diesen Waffen – neben Drohnen – die Zukunft gehören, prophezeit die Neue Zürcher Zeitung: „Seit langem befürchten Experten und Entscheidungsträger, dass Marschflugkörper (Cruise-Missiles) den herkömmlichen ballistischen Raketen den Rang ablaufen und als Angriffswaffen eingesetzt werden. Diese Waffen können vergleichsweise billig produziert werden, da die Technologie weitestgehend kommerziell verfügbar ist.“
Die Ziel-Vorhersage eines Lenkwaffenangriffs ist schwierig, weil diese Raketen mehrmals die Richtung wechseln können und der Abschussort damit im Vorhinein kaum feststellbar. Auch die KH-59 oder KH-69 können nicht nur vor dem Abschuss auf ein Ziel programmiert werden, sondern noch während der Flugphase. Die Möglichkeiten, die Bedrohung durch Marschflugkörper zu reduzieren, sind damit anscheinend begrenzt – auch der Iran und Nordkorea testen Flugkörper mit enormer Reichweite, um die Vernichtung über weite Strecken zu tragen. Sie werden damit zu idealen Erstschlagwaffen – sowohl konventionell als auch nuklear bestückt.
KH-69: Putin setzt wohl hauptsächlich Testversionen in der Ukraine ein
Die ukrainischen Verteidiger verbreiten noch Zuversicht: Der Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, Major Ilja Jewlasch, sagte gegenüber Newsweek, die KH-69 sei eine verbesserte Version der Marschflugkörper KH-59, mit der Moskau in den vergangenen Wochen ukrainische Infrastruktur angegriffen habe. Jewlasch bezweifelt jedoch Russlands Fähigkeit, diese neue Raketen in großem Umfang herzustellen, weil sie dazu spezielle Bauteile wie Chips und Halbleiter beschaffen müssten und überdies wohl die neuen Raketen kaum schneller produzieren könnten als andere Waffen. „Eine im Februar 2024 untersuchte Rakete wies Herstellungsangaben vom Ende 2023 auf, was auf das beginnende Stadium des Produktionszyklus der KH-69 hindeutet“, schreibt beispielsweise The New Voice of Ukraine.
Das Magazin verweist auf einen ersten bekannten Einsatz von KH-69-Raketen gegen die Ukraine Anfang Februar, der zu einer umfassenden Analyse der Waffe anhand von Wrackteilen geführt haben soll. Berichten des Militärs zufolge hätten ukrainische Streitkräfte fünf von sechs Lenkflugkörpern KH-59 und KH-69 abgeschossen; gestartet waren die offenbar über den Regionen Poltawa, Sumy und Mykolajiw. Luftwaffen-Sprecher Jewlasch gibt sich in der New Voice of Ukraine jedenfalls kämpferisch gegen die vermeintlich große Bedrohung durch die KH-69: „Höchstwahrscheinlich wird das Patriot-Luftverteidigungssystem auch in der Lage sein, ihr entgegenzuwirken, da es bereits gegen weitaus ausgefeiltere Raketen seine Stärke bewiesen hat: gegen Raketen, wie die Hyperschallraketen Zirkon und Kinschal“.