„Ich bin nicht für den Krieg gemacht“: Tausende Männer fliehen aus der Ukraine
Die ukrainische Hauptstadt Kiew kämpft mit einem Mangel an Soldaten im Ukraine-Krieg. Viele Männer wollen jedoch aus unterschiedlichen Gründen nicht an die Front.
Kiew – Eine wachsende Zahl von Männern sieht sich gezwungen, drastische Maßnahmen zu ergreifen, um dem Schrecken des Krieges zu entgehen. Kürzlich berichtete das Nachrichtenportal The Guardian über Männer, die versuchen, der Wehrpflicht zu entgehen und dem Risiko zu entkommen, an die Front geschickt zu werden.
Mehr als zwei Jahre nach Wladimir Putins groß angelegter Invasion leidet die ukrainische Armee immer noch unter einem enormen Mangel an Soldaten. Seit Kriegsbeginn haben sich Hunderttausende Ukrainer freiwillig zum Dienst gemeldet, viele von ihnen sind inzwischen tot, verwundet oder erschöpft. Um die Reihen zu füllen, hat Präsident Wolodymyr Selenskyj das Einberufungsalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt und neue Maßnahmen gegen Wehrdienstverweigerer eingeführt. Wer den Dienst verweigert, kann seinen Führerschein verlieren, Bankkonten eingefroren und Eigentum beschlagnahmt bekommen.
Fluchtgedanken eines Fotografen: Dmytro's letzter Ausweg aus dem Ukraine-Krieg
Seit Beginn des Krieges haben Tausende ukrainische Männer illegal die Grenze überquert, obwohl ein landesweites Verbot für Männer zwischen 18 und 60 Jahren gilt, das Land zu verlassen. Diese Fluchtversuche werden voraussichtlich zunehmen, da die Ukraine vor kurzem neue, umfassende Mobilisierungsmaßnahmen verabschiedet hat. Diese ermöglichen es dem Militär, mehr Soldaten einzuberufen und die Strafen für Wehrdienstverweigerer zu verschärfen.
Für Dmytro, einen 31-jährigen Fotografen aus Charkiw, kann der Herbst nicht schnell genug kommen. Seine Betreuer haben ihm versprochen, ihn aus der Ukraine herauszuholen. Dmytro berichtete gegenüber The Guardian, dass er das Land verlassen möchte und sich in seiner Wohnung verschanzt hat, um einer Einberufung zu entgehen, weil er es nicht mehr ertragen kann, hier gefangen zu sein.
Dmytro hat über Freunde, die bereits geflohen waren, Kontakte geknüpft und online Personen angesprochen, die ihm gegen eine Summe von 8.000 Euro bei der Flucht helfen wollen. Dmytro sagt über sich selbst, er sei nicht für den Krieg geschaffen und könne keine Menschen töten, auch wenn es Russen sind. „An der Front werde ich nicht lange durchhalten (…) Ich möchte eine Familie gründen und die Welt sehen. Ich bin nicht bereit, zu sterben“, sagte er.
Ukrainischer Grenzschutz stoppt Fluchtversuch bei Kelmenzi
Die Deutsche Presseagentur teilte am Donnerstag mit, dass der ukrainische Grenzschutz zwei Dutzend wehrpflichtige Männer an der Flucht aus dem Kriegsland gehindert hat. Die Gruppe sei bei der Ortschaft Kelmenzi an der Grenze zu Moldau im westukrainischen Gebiet Tscherniwzi (Czernowitz) festgenommen worden. Alle Männer stammen demnach aus verschiedenen Landesteilen und hatten vor, im Schutz der Nacht zu Fuß über die grüne Grenze zu flüchten. Fluchthelfern haben den Angaben zufolge pro Person 12 000 Euro kassiert.
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Schon vor der neuen Mobilisierungsaktion sollen mehr als 20.000 Männer das Land verlassen haben, um sich dem Militärdienst zu entziehen. Einige von ihnen ertranken beim Versuch, die Grenze nach Rumänien zu überqueren. Mindestens 30 Ukrainer starben laut Andriy Demchenko, dem Chef des ukrainischen Grenzschutzes, beim Versuch, die Grenze zu überqueren. Die tatsächliche Zahl dürfte jedoch nach Angaben weitaus höher sein.
Selenskyj entlässt Rekrutierungschefs wegen Bestechung
Während Rekrutierungsoffiziere durch die Städte streifen, um wehrfähige Männer einzuziehen, haben viele, darunter auch Dmytro, Fluchtpläne geschmiedet. Seit Kriegsbeginn wird die Wehrpflicht als unorganisiert und korrupt kritisiert. Die ukrainische Regierung hat ihre Maßnahmen verschärft, um Menschen daran zu hindern, die Grenze zu überqueren und dem Militärdienst zu entgehen. Ein Beispiel dafür ist die Entlassung aller regionalen Rekrutierungschefs durch Präsident Selenskyj im April aufgrund von Korruptionsvorwürfen.
Andrei's Versuch, der Wehrpflicht im Krieg gegen Russland zu entgehen
Andrei, ein 23-jähriger IT-Mitarbeiter aus Odessa, erzählte The Guardian im Interview, dass er im Mai eine Nachricht von einem Agenten erhalten habe, mit Anweisungen, wie er das Land verlassen könne. Beide Fluchtmöglichkeiten – entweder die Grenze mit einem gefälschten Pass zu überqueren oder sich als Künstler auszuweisen – kosteten etwa 8.000 Euro. Im vergangenen Sommer hatte Andrei bereits mit einem gefälschten ärztlichen Attest versucht, die Grenze nach Moldawien zu überqueren – was jedoch scheiterte.
Andrei erklärte, dass die Reise zunehmend schwieriger werde und die Grenzbeamten immer weniger bereit seien, Bestechungsgelder anzunehmen. Er stehe derzeit unter selbst auferlegtem Hausarrest. „Ich verlasse meine Wohnung überhaupt nicht“, sagte er. Einige seiner Freunde seien bereits im Einsatz gewesen und getötet worden, was seiner psychischen Gesundheit geschadet habe.
Telegram-Kanäle helfen Wehrdienstverweigerern, Staatsvertretern zu entgehen
In großen Städten haben sich laut BBC Telegram-Kanäle mit Tausenden von Mitgliedern gebildet, in denen Benutzer Sichtungen von Staatsvertretern melden, um anderen zu helfen, ihnen aus dem Weg zu gehen. Viele äußerten ihre Angst, in einer Schlacht umzukommen, die von grausamen Stellungskämpfen geprägt ist. Andere sprachen von unzureichender Ausbildung oder komplexen familiären Gründen. Mykhailo, ein Fitnesstrainer aus Mariupol, erzählt im The Guardian-Interview folgendes: Er vermeidet es, das Haus zu verlassen, um nicht eingezogen zu werden. Seine Eltern leben in der von Russland besetzten Küstenstadt, und er fürchtet um ihre Sicherheit. „Ich liebe mein Land und möchte kämpfen, aber die Familie steht an erster Stelle“, sagte er.

Trotz der starken Unterstützung für die ukrainischen Truppen besteht die Gefahr, dass die Wehrpflicht die Gesellschaft spaltet. Viele Soldaten kritisieren die Wehrdienstverweigerung, da sie die Kriegsanstrengungen schwäche. „Ich verstehe, dass die Leute Angst haben, aber wir brauchen neue Rekruten, um weiterkämpfen zu können“, sagte Roman, ein verwundeter Soldat aus Kiew. „Wenn nicht wir, wer wird dann dieses Land beschützen?“ (jek)
Die Namen der Männer wurden von The Guardian geändert.