Blaumacher-Alarm: Krankenkassen melden Rekord-Krankenstand - Experten widersprechen deutlich
Kein Geld für Drückeberger: Das fordern Versicherer. Experten aus Wirtschaft, Medizin und Gewerkschaft widersprechen. Die sehen andere Gründen für die Rekordzahlen.
In Deutschland arbeiten die Drückeberger Europas oder alle sind krank: Zu dem Schluss kann kommen, wer aktuelle Statistiken der Krankenkassen verfolgt. Die Zahl der Krankheitstage deutscher Arbeitnehmer sei auf Rekordniveau. Inzwischen werden Debatten darüber geführt, den Menschen an einem einzelnen Krankheitstag keinen Lohn mehr zu bezahlen – also den sogenannten Karenztag wieder einzuführen.
„Drückeberger ist seltener geworden“
Hausarzt Dr. Jörg Lohse kann diesem Vorschlag nicht allzu viel abgewinnen. „Ich kann nicht erkennen, welches Problem das denn nun lösen sollte.“ Wird ein einzelner Blaumach-Tag nicht mehr bezahlt, würde der Drückeberger eben zwei oder drei Tage Zuhause bleiben. Ein verantwortungsbewusster Mitarbeiter würde hingegen von der Regel bestraft – und sich im Zweifel krank und ansteckend in die Arbeit quälen. Lohse führt keine genaue Statistik, „aber ich habe nicht den Eindruck, dass die Leute öfter krank sind“. Machen die Leute also öfter blau? Lohse widerspricht: „Drückeberger sind seltener.“
Drückeberger-Alarm: Krankenkassen melden Rekord-Krankenstand - Experten widersprechen deutlich
Der Münsinger bemerkt ein besseres Bewusstsein für Infektionen. „Vor zehn Jahren wurde in Büros mehr geschnieft und geschnäuzt.“ Inzwischen würden viele Wert darauf legen, sich bei Erkrankungen zu schonen und nicht durch falschen Ehrgeiz Kollegen anzustecken. „Das ist sehr positiv zu sehen“, sagt der Mediziner.
Lohse hat eine Theorie, wieso die Statistiken so dramatische Steigungen aufweisen: Die Kassen hatten bis vor kurzem schlichtweg zu wenig Infos. Seit einigen Monaten erhalten die Kassen aber die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – die AU – elektronisch und verpflichtend. „Davor hat der Kranke drei Zettel bekommen, einen davon für die Kasse – und der ist in vielen Fällen direkt daheim im Papierkorb gelandet“, weiß Lohse.
Sind Statistiken verfälscht? Krankenkassen bemängeln Entwicklung
IHK-Chefin Renate Waßmer beobachtet „keine außergewöhnlichen Entwicklungen“. Das sagt die Sparkassen-Vorstandsvorsitzende über ihre Belegschaft. „Konkrete Zahlen zu höheren Krankenständen liegen auch der IHK nicht vor.“ Einige Mitgliedsunternehmen der Industrie- und Handelskammer hätten aber den Eindruck, „dass es Arbeitnehmern durch eine telefonische Krankschreibung sehr leicht gemacht wird“, gesund daheim zu bleiben – und einige das ausnutzen. Waßmer: „Ob der Eindruck den Tatsachen entspricht, lässt sich schwer beurteilen.“
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IHK-Chefin setzt auf Gesundheitsmanagement
Dass sich Unternehmen Gedanken machen, wie Krankenstände gesenkt werden können, sei „grundsätzlich nachvollziehbar“, findet die Regionalausschuss-Chefin der IHK. Finanzielle Abstriche könnten dazu beitragen, am Karenztag-Modell hat sie dennoch Zweifel: „Die Entgeltfortzahlung sichert, dass kranke Arbeitnehmer auch wirklich zu Hause bleiben, um Ansteckungen zu vermeiden und chronischen Erkankungen vorzubeugen.“ Sie hält eine andere Vorgehensweise für sinnvoll: „Wichtig sind aus meiner Sicht eine gute Unternehmenskultur und ein aktives betriebliches Gesundheitsmanagement.“ Sparkassen-Angestellte könnten etwa an Entspannungs- und Achtsamkeits-Workshops teilnehmen, es gibt Mittagspausen mit Bewegung und Kollegen, die gemeinsam laufen, trainieren oder aufs Spinning-Rad steigen.
Gewerkschaftsvertreter halten solche Förderungen für Gesundheit für sinnvoll – Klaus Barthel zum Beispiel, der stellvertretende Vorsitzende der DGB im Landkreis. „Man muss auch die psychischen Krankheitsfälle runterkriegen, die für längere Fehlzeiten sorgen.“ Überlastung sei gefährlich, Unterforderung auch: „Es braucht ein gesundes Gleichgewicht, damit die Menschen gesund bleiben.“ Einen Anstieg der Ausfälle sieht er nicht, „es wird nur jetzt lückenlos erfasst“.
Ex-Abgeordneter sieht andere Probleme in der Arbeitswelt: „Ablenkmanöver“
Die Debatte über Karenztage und Krankheitsfälle hält der langjährige Bundestagsabgeordnete für eine politisch gefärbte Diskussion. „Es wird ein Szenario aufgebaut, in dem behauptet wird, dass wir alle noch mehr arbeiten müssen. Man versucht, noch ein bisschen mehr aus den Leuten herauszuquetschen. Mit der Realität hat das wenig zu tun. Die Arbeitnehmer haben Milliarden Überstunden, die Hälfte davon unbezahlt, es gibt so viele Beschäftigte wie noch nie. Es gibt in der Arbeitswelt andere Probleme als vermeintliche Krankheitswellen.“ Lohnungerechtigkeiten etwa, und psychische Erkrankungen durch die Arbeit. „Über Karenztage zu diskutieren, ist ein großes Ablenkmanöver.“