67.000 Corona-Opfer – und eine Gesellschaft, die dem Staat nicht mehr vertraut
„Was hat Corona mit uns gemacht?“: Das ist die erste Frage, die Julia Ruhs, die auch für FOCUS online Kolumnen schreibt, in der dritten Folge von „KLAR“ stellt (abrufbar in der ARD-Mediathek und auf dem YouTube-Kanal der „Tagesschau“). Wenn ich persönlich diese Frage beantworten müsste, es würde etwa so klingen: Corona hat genervt.
Corona hat einige lieben Bekannte das Leben gekostet. Corona, bei dem es neue Varianten gibt, hat mir gezeigt, dass Regelungshysterie auch zu Zeiten einer Pandemie wenig hilfreich ist. Ansonsten kann ich sagen: Glück gehabt – und vieles habe ich einfach auch schon wieder vergessen. Beispielsweise die Angst vor der Begegnung mit anderen Menschen. Bei „KLAR“ zeigt die Reporterin Julia Ruhs: Nicht jeder hat dieses Glück gehabt.
Corona – heiligte der Zweck die Mittel?
Wir erleben ein Wiedersehen mit Angela Merkel (CDU). „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst“, spielt die Dokumentation die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel ein: „Seit der deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames, solidarisches Handeln ankommt.“
Das ist ein Satz, der sich erhalten hat. Viele Politiker hatten sich offensichtlich entschlossen, diese Solidarität zu erzwingen. Motto: Der Zweck heiligt die Mittel.
Kinder fühlen sich schuldig am Tod der Eltern
"KLAR" zitiert aus einem internen Papier: „Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden“, wird da gefordert.
Um hinreichend zu schockieren, werden Szenarien entwickelt - Zitat: „Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause.“ In dem Stil geht es weiter, es wird sogar noch drastischer.
Beschrieben werden die Schuldgefühle von Kindern, wenn ein Elternteil „qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen“.
„Wahrscheinlich im Rückblick eine Übertreibung“
Mit Information hat das nichts mehr zu tun. Es geht darum, Angst zu schüren. Wie sieht es Ex-Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD)? „Bei den Kindern und Jugendlichen haben wir damals einen Fehler gemacht“, sagt er.
Drakonische Einschränkungen für die Kinder, um möglichst viele Wirtschaftsbetriebe möglichst lange offen zu halten? Da wurde möglicherweise eine Generation für eine andere geopfert. Wie stehen andere Politiker dazu, die damals nicht in der Verantwortung waren?
Das Team befragt Wolfgang Thierse (SPD), bis 2005 Präsident des Deutschen Bundestages. Sein Urteil: „Die Radikalität, mit der wir Schulen und andere Einrichtungen geschlossen haben, ist wahrscheinlich im Rückblick ein Fehler gewesen, eine Übertreibung.“
„Nicht mehr gesprächsfähig“
Nur eine Übertreibung? Das ist eine, sagen wir, maßvolle Kritik. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos, vorher: Grüne) wird deutlicher. Er spricht von einer „verkehrten Herangehensweise“: Seine Stadt hat als einzige Deutschlands aus dem Haushalt die Corona-Testung in den Altenheimen finanziert.
„Ich wollte“, sagt er, „zielgenaue Maßnahmen statt der Schließung von Schulen.“ Die Folgen für ihn? „Ich sehe zwei schwere Folgen: Zum einen haben die Feindseligkeiten dazu geführt, dass Menschen dem Staat misstrauen, dass sie ihn ablehnen. Zum anderen sind Gruppen entstanden, die miteinander nicht mehr gesprächsfähig sind. Das ist für die Demokratie schwierig.“
Die Toten sind nicht die einzigen Opfer
Die Folgen sind messbar. 2017 untersuchte eine Bertelsmann-Studie den gesellschaftlichen Zusammenhang mit der Frage: „Heutzutage kann man sich auf niemanden verlassen“. Da stimmten 13 Prozent der Befragten zu.
Im Jahr 2023 waren es 28 Prozent. Rund 67.000 Menschen sind während der Pandemie in Deutschland an oder mit Corona gestorben. Auch das Vertrauen in Politik und Politiker gehört zu den Opfern.