Gnade vor Recht: Selenskyj nimmt Fahnenflüchtige wieder auf
Ein Schritt gegen die Familie und für die Kameraden: Gesetzesreform hat Deserteuren die Rückkehr erleichtert. Fast drei Divisionen wieder aufgefüllt.
Kiew – „Nicht politische Ideologien, sondern Kleingruppenerfahrungen sind entscheidend für die Kampfkraft von Soldaten, ihre Tötungsbereitschaft wie ihre Durchhaltefähigkeit“, schreibt Herfried Münkler. Er hatte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.) das Buch „Soldaten“ des Militärhistorikers Sönke Neitzel rezensiert. Im Ukraine-Krieg hat sich die These des deutschen Politikwissenschaftlers wohl gerade auf wundersame Weise bestätigt. Rund 30.000 ukrainische Soldaten haben sich in den Kampf gegen Wladimir Putins Invasionstruppen wieder zurückgemeldet – nachdem sie ihren Kameraden an der Front den Rücken gekehrt hatten.
„Dank des Gesetzes und des entwickelten Mechanismus sind zwischen dem 29. November 2024 und August 2025 mehr als 29.000 Soldaten, die ihre Einheiten freiwillig verlassen hatten, in den Dienst zurückgekehrt“, sagt Oleksiy Sukhachev. Den Direktor des Staatlichen Ermittlungsbüros zitiert aktuell die ukrainische Nachrichtenagentur Interfax-Ukraine. Im Klartext: Den Rückkehrern bleibt eine Bestrafung durch die Straf- beziehungsweise Militärgerichtsbarkeit der Ukraine erspart; sie werden in die Truppe wieder aufgenommen und gehen an die Front zurück.
Fahnenflucht im Ukraine-Krieg: 100.000 ukrainische Kräfte sollen ihren Kameraden den Rücken gekehrt haben
Das ukrainische Parlament, Werchowna Rada, hatte die Frist ursprünglich bis zum 1. März 2025 gesetzt und dann nochmal verlängert. Die Gesetzesform hebelt auch die Militärgerichtsbarkeit dahingehend aus, dass dem Kommandanten einer Einheit formlos gestattet wird, Rückkehrer wieder in die Truppe zu integrieren. Unabhängig von dem, was in der Zwischenzeit geschehen ist.
„Neben dem Vertrauen in die Kompetenz der Offiziere ist es vor allem die Erfahrung von Kameradschaft, die eine Truppe zusammenhält und sie auch dann noch weiterkämpfen lässt, wenn die politisch-militärische Lage aussichtslos geworden ist.“
„Dieser Mechanismus bietet denjenigen, die eine Straftat begangen haben, die Möglichkeit, in die Militäreinheit zurückzukehren und ihren Dienst auf vereinfachte Weise fortzusetzen, wobei ihnen finanzielle, Nahrungsmittel-, Material- und andere Unterstützung wiederhergestellt wird“, betonte Suchatschew laut Interfax-Ukraine. Er habe klargestellt, dass Soldaten, die ein Gewaltverbrechen begangen hätten, auch durch Gerichtsbeschluss von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit befreit werden können.
Wie The New Voice of the Ukraine Ende 2024 berichtet hatte, habe der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj veranlasst, dass Strafverfahren wegen Fahnenflucht oder Desertion eingestellt werden können, wenn die Person freiwillig zu ihrer Militäreinheit zurückkehre, vorausgesetzt dieser Verstoß sei der erste seiner Art gewesen. Nach der Gesetzesänderung würden die Soldaten nach ihrer Rückkehr ihre alten Dienstverträge wieder aufnehmen können, statt entlassen zu werden. Im Dezember 2024 hatte die Defense Post berichtet, dass wohl insgesamt 100.000 ukrainische Kräfte ihren Kameraden den Rücken gekehrt hätten.
Drei Divisionen zurück gegen Russland: „Begnadigung“ für Rückkehrer war verlängert worden
Aus verschiedenen Gründen: „Ein Deserteur, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben wollte, erklärte, dass ihm für eine Operation medizinischer Urlaub gewährt worden sei, er sich jedoch entschieden habe, nicht zurückzukehren“, schreibt Defense Post-Autor Joe Saballa. Der estnische Rundfunk ERR (Eesti Rahvusringhääling) hatte im Dezember 2024 berichtet, dass sich unerlaubte Abwesenheiten in der ukrainischen Armee zu einer ernsten Herausforderung ausgewachsen hätten. Die ohnehin dünne Personaldecke ist die mit Abstand größte Schwierigkeit, gegen die Wolodymyr Selenskyj zu kämpfen hat.
Allerdings sei die „Fahnenflucht“ ukrainischer Kämpfer offenbar überwiegend pragmatisch begründet, wie die ERR-Autoren Anton Alekseev und Kristjan Svirgsden berichten. Die Deserteure „wollen keineswegs für immer untertauchen, sondern viele von ihnen sagen, sie seien lediglich auf der Suche nach einem besseren Kommandeur oder einer besseren Einheit und hätten kein Problem damit, für die Ukraine zu kämpfen, wenn diese Voraussetzungen erfüllt seien“.
Je nachdem, wie eine Armee organisiert ist, bilden die zurückgekehrten Kräfte ein bis drei Verbände im Umfang von Divisionen – die kann sowohl 10.000 als auch 20.000 Soldaten umfassen. Desertion zieht immer mehrjährige Haftstrafen nach sich – laut dem ukrainischen Strafrecht, Paragraph 408, kann Fahnenflucht unter Kriegsrecht beziehungsweise in Kriegszeiten eine Verurteilung bis zu zwölf Jahren bedeuten. Allerdings hat Selenskyj Vernunft walten und Gnade vor Recht ergehen lassen. Die „Begnadigung“ für Rückkehrer hatte erst bis März gegolten und hatte dann wohl verlängert werden müssen.
Desertion vor dem Fronteinsatz: Gründe sind unterschiedlich und kaum rational zu fassen
Wie Militarnyi berichtet, sei in der Begründung der Fristverlängerung betont worden, dass das ursprünglich beschlossene Fristende am 1. März 2025 zu kurz gewesen sei und es aufgrund mangelnder Kommunikation, Rekrutierungsproblemen und technischer Einschränkungen insbesondere in der Bedienung der App „Army+“ nicht möglich gewesen sei, alle gewünschten Personen zu erreichen. „‚Was für ein Verbrechen? Ich hatte familiäre Probleme!‘, sagt Kostjantyn, Deserteur der ukrainischen Armee. Und fügt hinzu: ‚Es ist übrigens ein Verbrechen, dass ich nach meiner Verwundung weder eine Rehabilitation noch Entschädigung bekam!‘“, zitiert ihn die Deutsche Welle. DW-Autorin Hanna Sokolova-Stekh forschte im April nach den Beweggründen der Rückkehrer.
Die sind unterschiedlich und kaum rational zu fassen. „Ich bin wieder aufgeladen“, sagt beispielsweise der ukrainische Soldat „Milka“ und fügt hinzu: „An Urlaub denke ich im Moment gar nicht. Aber am liebsten würde ich alles ausziehen, in Benzin tauchen und die Kleidung verbrennen, und dann einen Trainingsanzug anziehen, meine Kinder an die Hand nehmen und spazieren gehen. Das ist es, was ich mir wünsche“, sagt der Mann, wie ihn Hanna Sokolova-Stekh zitierte.
Trotz hoher Verluste: „Krieg ist wie eine Droge. Wenn man im Krieg war, zieht es einen dorthin zurück.“
Sie findet ihn erwähnenswert, weil er trotz seiner Sehnsüchte doch wieder in Grün auftritt und statt seiner Kinder eine Waffe in der Hand führt – nach seiner verletzungsbedingten Auszeit. „Warum ich wieder zurückgekehrt bin? Wie soll ich es erklären? Krieg ist wie eine Droge. Wenn man im Krieg war, zieht es einen dorthin zurück“, so „Milka“. „Es ist nicht so, dass man diese Explosionen braucht, überhaupt nicht. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.“
Fahnenflucht, insbesondere Desertion, gelte als „ein komplexes, vielschichtiges Phänomen mit eigenen Ursachen“, kommentiert die Europäische Organisation der Militärverbände und Gewerkschaften (EUROMIL) den Vorstoß der Ukraine zur Wiedereingliederung von frustrierten, ausgebrannten oder traumatisierten Soldaten in die Truppe. Was allerdings auch neue Schwierigkeiten provozieren kann, wie er ERR Ende 2024 die Anwältin Anna Fursova zitiert hat: Verschwinden und Wiederauftauchen sei durch die Frist erleichtert worden und hätte an der Disziplin der Truppe genagt.
Anstelle eines Versetzungsgesuchs hätten untere Dienstgrade einfach ihre schlecht geführte Einheit verlassen und unter einem neuen Kommando wieder in den Dienst eintreten können, so die Angst der Anwältin. Das würde die Situation der an der Front stehenden Verbände noch weiter verschärfen. Wer im Schützengraben hockt und die Kugeln zischen hört statt heroischer Worte vergisst möglicherweise den Grund, warum er zum möglichen Sterben angetreten war. Flucht wäre verständlicher als Ausharren.
Putins Erbe: Die Menschen sind erschöpft. Sie wollen ihre Familien sehen. Ihre Kinder wachsen ohne sie auf
Olha Reshetylova hat der britische Guardian im Januar vorgestellt als die erste Militärombudsfrau der Ukraine, also als Beauftragte für den Schutz der Rechte von Soldaten – ihr zufolge falle die Entscheidung mitunter leicht zwischen dem möglichen Tod und eventuellem Gefängnis; die zweite Wahl sei „natürlich“ die bessere Option. Reshetylova: „Seien wir ehrlich. Das Problem ist groß. Das ist ganz natürlich nach drei Jahren Krieg. Die Menschen sind erschöpft. Sie wollen ihre Familien sehen. Ihre Kinder wachsen ohne sie auf. Beziehungen zerbrechen. Ehefrauen und Ehemänner können nicht ewig warten. Sie fühlen sich allein.“
Der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler sieht das wissenschaftlich-pragmatischer. Was im Krieg trotz aller Technisierung zähle, sei die Wertschätzung des Individuums – obwohl jeder prinzipiell durch seinen Nebenmann ersetzt werden könne und müsse, wenn er fiele. Münkler in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Neben dem Vertrauen in die Kompetenz der Offiziere ist es vor allem die Erfahrung von Kameradschaft, die eine Truppe zusammenhält und sie auch dann noch weiterkämpfen lässt, wenn die politisch-militärische Lage aussichtslos geworden ist.“