Chance für einen „Brückenbau“: Zeitzeugen kehren zum 80. Jahrestag nach Föhrenwald zurück

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Auf 170 blassblauen Plakaten finden sich Schwarz-Weiß-Fotos und Kurzbiografien der Männer und Frauen, die nach dem Holocaust im DP-Lager Föhrenwald temporär eine Zuflucht fanden. Aufstellen werden die Tafeln (v. li.) Jonathan Coenen, Rhiannon Moutafis, Dr. Sybille Krafft und weitere Mitglieder des Badehausvereins rund um den Kolpingplatz in Waldram. © Sabine Hermsdorf-Hiss

Am 18. Oktober findet in Waldram ein öffentlicher Erinnerungszug statt, bei dem Biografien ehemaliger Bewohner des DP-Lagers Föhrenwald präsentiert werden. Dessen Gründungstag jährt sich zum 80. Mal.

Wolfratshausen – Seit Jahren investieren die Ehrenamtlichen unermesslich viel Zeit und reichlich Herzblut in die Dokumentationsstätte Badehaus in Waldram. Jetzt haben sie erneut einen Kraftakt gestemmt: Die Organisation des Erinnerungsprojekts „Die Rückkehr der Föhrenwalder“. Mit zwei Großveranstaltungen, zu denen Zeitzeugen aus aller Welt anreisen und sich hochrangige Vertreter aus Klerus und Politik in die Rednerliste eingetragen haben, begeht der Badehausverein den 80. Jahrestag der Gründung des jüdischen Displaced-Persons (DP)-Lagers Föhrenwald.

Idee wurde bei Zeitzeugenbesuch in Israel geboren

„Die Idee kam uns im Mai vergangenen Jahres bei Zeitzeugengesprächen in Israel“, erinnert sich Projektleiter Jonathan Coenen, Vize-Vorsitzender des Badehausvereins. Gesagt, getan. Nicht zuletzt, „weil wir wissen, dass die Zeit läuft“, sagt Vereinsvorsitzende Dr. Sybille Krafft. Die Zeitzeugen werden weniger – „und sie müssen ja auch die Kraft haben, noch einmal zu uns zu kommen“.

DP-Lager Föhrenwald (heute Waldram)
Eine undatierte Postkarte zeigt eineLuftaufnahme des DP-Lagers Föhrenwald. Ab Oktober 1945 bot es Überlebenden des Holocaust eine vorübergehende Zuflucht. 1958 wurde die Siedlung in Waldram umbenannt. © Stadtarchiv Wolfratshausen

Das Badehaus am Kolpingplatz steht auf dem Gelände des ehemaligen DP-Lagers Föhrenwald, das ursprünglich für NS-Rüstungsarbeitskräfte gebaut worden war. Ab Oktober 1945 bot Föhrenwald Überlebenden des Holocaust eine vorübergehende Zuflucht. Später fanden Heimatvertriebene in Waldram, wie der Ort in der Folge hieß, ein neues Zuhause.

Gaza-Krieg machte vielen die Reise von Israel nach Deutschland unmöglich

Bei der Terminierung der Veranstaltung gingen die Badehäusler mit Bedacht vor. Hohe jüdische Feiertage wurden berücksichtigt und auch die Oktoberfestzeit kam nicht in Frage, weil für die Zeitzeugen und ihre Familien Hotelzimmer benötigt werden. „Anfang dieses Jahres haben wir ein ,Save the Date‘ versendet“, berichtet Rhiannon Moutafis, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Badehaus. Rund 200 Personen mit direktem Bezug zum ehemaligen DP-Lager Föhrenwald bekamen wenig später eine persönliche Einladung, die Zeitzeugen und deren Familienangehörige in Deutschland, Israel, Amerika, Kanada und Australien. „Wir haben uns unheimlich über die vielen positiven Rückmeldungen gefreut“, so Moutafis. Der Krieg in Gaza machte jedoch vielen die Reise von Israel nach Deutschland unmöglich. „Die Ungewissheit war groß, ob man fliegen kann oder der Luftraum gesperrt ist“, sagt Krafft. Dennoch liegen Stand jetzt gut 100 Zusagen vor, darunter von 40 Zeitzeugen.

Ich wünsche mir, dass die einzigartige Geschichte dieses Ortes in möglichst viele Köpfe und Herzen dringt.

Es sind die vielen Details, die hinter den Kulissen geklärt werden müssen. 50 Ehrenamtliche sind am 18. und 19. Oktober im Einsatz. Der Aufbau, die Technik, der Ordnungsdienst, das Catering, das Dolmetschen, der Shuttle-Service und gefühlt 1000 weitere Dinge wollen organisiert werden. Die Zeitzeugen werden während ihres Aufenthalts in Oberbayern von Mitgliedern des Badehausvereins betreut. Da es für religiöse Juden üblich ist, am Sabbat, am Ruhetag von Freitag- bis Samstagabend, keine öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen, „sind die in Waldram bei Privatpersonen untergebracht“, erklärt Krafft. Dafür ist sie den Waldramern sehr dankbar, generell stoße man in der Bevölkerung auf auf „große positive Resonanz“. Stiftungsdirektor Manfred Bugl habe angeboten, Gäste in den Wohnräumen des Kollegs St. Matthias unterzubringen, „auch die Städte Wolfratshausen und Geretsried unterstützen uns“, betont Coenen. „Und der Bund hat das Erinnerungsprojekt finanziell gefördert“, lobt Krafft.

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Rundgang mit Zeitzeugen

Anlässlich des 80. Jahrestags der Gründung des jüdischen Displaced-Persons-Lagers Föhrenwald hat der Badehausverein ein Jubiläumswochenende organisiert. Die zentrale öffentliche Veranstaltung rund um den Erinnerungsort am Kolpingplatz beginnt am Samstag, 18. Oktober, um 16 Uhr mit Grußworten, Musik und einer szenischen Lesung. Um 17 Uhr findet ein Rundgang durch das ehemalige DP-Lager Föhrenwald statt – Biografie-Tafeln vor den Häusern erzählen die Geschichten ihrer früheren Bewohner. Bei Dunkelheit veranschaulicht an der Fassade des Badehauses die Lichtinstallation „Geschichte trifft Gegenwart“ von den Wolfratshausern Leo und Alfred Fraas die besondere Historie des Ortes.

Im Mittelpunkt der öffentlichen Veranstaltung am Samstag, 18. Oktober, steht ein etwa einstündiger Erinnerungszug durch das ehemalige DP-Lager. Auf 170 blassblauen Tafeln, die vor den Häusern rund um den Kolpingplatz aufgestellt werden, finden sich Schwarz-Weiß-Fotos und Kurzbiografien der Männer und Frauen, die nach dem Holocaust im „Überlebenslager Föhrenwald“ (Coenen) temporär eine Zuflucht fanden. Bei der Erstellung der Plakate konnten die Badehäusler auf einen „Schatz“ (Krafft) zurückgreifen, den Moutafis hegt und pflegt: Ein Archiv, ein riesiger Datensatz, generiert seit 2012 durch hunderte Gespräche mit Zeitzeugen sowie intensive Recherchen.

„So etwas gab es bislang noch nicht“, stellt Coenen zu dem Rundgang und den zu diesem Zweck angefertigten Biografie-Tafeln fest. Mit dem Erinnerungszug wolle der Badehausverein „ein sichtbares Zeichen gegen das Vergessen setzen“, zudem „bietet sich die Gelegenheit, den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen persönlich zu begegnen und ihre Geschichten kennenzulernen“.

Salamander, Marx, Stolz und Spaenle unter den Gästen

Beim internen Festakt am 19. Oktober erwartet wird Dr. Rachel Salamander, Vorsitzende des Münchner Vereins „Synagoge Reichenbachstraße“. Die Literaturwissenschaftlerin lebte von 1951 bis 1956 mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem Bruder Borys in Föhrenwald. „Kamen die Erwachsenen am Abend in dem einen Raum zusammen, der uns zur Verfügung stand, so fielen unentwegt Namen von umgebrachten Menschen. Es wurde viel geweint. Mit diesen Erzählungen schliefen wir ein“, sagte sie vor wenigen Tagen in einem Interview mit unserer Zeitung.

Ebenfalls haben ihr Kommen zugesagt haben Shai Lachman, geboren 1947 in Föhrenwald und heute Vorsitzender des Vereins der Nachkommen Föhrenwalds in Israel, Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising, die bayerische Kultusministerin Anna Stolz, sowie Bayerns Antisemitismusbeauftragter Dr. Ludwig Spaenle.

Badehaus-Mitarbeiterin Moutafis wünscht sich am kommenden Wochenende „viele schöne Begegnungen auf menschlicher Ebene“. Coenen hat die Hoffnung, dass die Bedeutung Föhrenwalds „als Überlebenslager nach dem Zweiten Weltkrieg noch deutlicher wird“.

Und Vereinsvorsitzende Krafft? „Ich wünsche mir, dass die einzigartige Geschichte dieses Ortes in möglichst viele Köpfe und Herzen dringt.“ Sie sieht den 80. Jahrestag als Chance für einen „Brückenbau“ und hofft, dass sich die Zeitzeugen „willkommen geheißen fühlen“ und „ein Wundenschließen möglich wird“. (cce)