Rachel Salamander erinnert sich an Kindheit im DP-Lager Föhrenwald

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Sie wuchs im DP-Lager Föhrenwald auf: Dr. Rachel Salamander (76), hier mit Bundeskanzler Friedrich Merz bei der Feier anlässlich der Wiederherstellung der Synagoge an der Münchner Reichenbachstraße, kommt am 19. Oktober zu einem Festakt nach Waldram. © Leonie Asendorpf/dpa

Am 19. Oktober kehrt die Literaturwissenschaftlerin als Zeitzeugin zum 80. Jahrestag der Gründung des Lagers an den Ort ihrer Kindheit zurück. Im Interview mit unserer Zeitung spricht sie über prägende Erinnerungen.

Wolfratshausen – Dr. Rachel Salamander ist im Januar 1949 in einem Durchgangslager in Deggendorf geboren. Sie wuchs die ersten Jahre ihres Lebens im Lager Föhrenwald, ein Camp für Displaced Persons (DP), im heutigen Waldram auf. Ihre Familie kommt aus dem osteuropäischen Judentum und hat den Holocaust in der Sowjetunion überlebt. Rachel Salamander blieb nach der Schließung des Lagers 1957 in Deutschland und wurde eine der führenden Persönlichkeiten des deutschen Literaturbetriebs. Sie hat mit dem von ihr und Ron C. Jakubowicz gegründeten „Verein Synagoge Reichenbachstraße“ maßgeblich zur Wiederherstellung der im Krieg zerstörten Münchner Synagoge beigetragen. Bei der Eröffnung am 15. September kämpfte Bundeskanzler Friedrich Merz mit den Tränen, als er aus einem Buch Salamanders vorlas. Darin schildert sie, wie sie als Kind von Holocaust-Überlebenden die Frage stellte, „ob denn niemand den Juden geholfen habe“. Am 19. Oktober wird die 76-Jährige zusammen mit weiteren Zeitzeugen an den Ort ihrer Kindheit zurückkehren. An dem Wochenende begeht der Badehausverein wie berichtet den 80. Jahrestag der Gründung des DP-Lagers Föhrenwald.

Frau Dr. Salamander, Sie waren ein kleines Kind, als sie nach Föhrenwald kamen. Welche prägende Erinnerung haben sie an die Jahre zwischen 1951 und 1956?

Trotz erbärmlicher Umstände im Lager ging es den Kindern gut. Sie waren die Spur in die Zukunft und standen an erster Stelle im Lagerleben. Wenn es etwas zu verteilen gab, dann bekamen sie es. Das Wertvollste jedoch war die uneingeschränkte Zuneigung der Überlebenden, womit sie den Kindern Geborgenheit für ihr Leben mitgaben.

Gab es ein besonders schlimmes Erlebnis?

Kamen die Erwachsenen am Abend in dem einen Raum zusammen, der uns zur Verfügung stand, so fielen unentwegt Namen von umgebrachten Menschen. Es wurde viel geweint. Mit diesen Erzählungen schliefen wir ein.

Sie haben sich als junge Frau entschieden, in Deutschland zu bleiben. Dem Land, das den Juden so unermessliches Leid zugefügt hat. Warum?

Niemand wird gefragt, wo er geboren werden will. Wir werden gefragt, warum wir hiergeblieben sind. Die wenigen Juden, die nach Auflösung des letzten DP-Lagers am 27. Februar 1957 in Deutschland geblieben sind, waren die sogenannten Hardcore-Fälle, die physisch und psychisch Schwächsten, die entweder keine Kraft mehr hatten weiterzuwandern oder aufgrund ihrer Krankheit kein Visum in den Ländern erhielten, wo zwei Drittel der DPs hingegangen sind: die meisten nach Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 dorthin oder nach Amerika und andere Länder. Deutschland war für die DPs lediglich Durchgangspassage für andere Länder, keiner wollte hier bleiben.

Obendrein haben Sie Germanistik studiert. Haben nicht manche Ihrer Freunde den Kopf geschüttelt?

Diejenigen, die vorher nie in Deutschland gewesen waren, hatten mit der deutschen Kultur nichts im Sinn. Zumal diese durch die Hitlerei überdies reichlich diskreditiert war. Für meine Community klang Germanistik nach Teutonentum, jedenfalls nach nichts Gutem. So hielt sich ihre Begeisterung tatsächlich in Grenzen.

Ab 1982 haben Sie insgesamt sieben Literaturhandlungen mit Werken jüdischer Autoren oder mit Bezug zum Judentum in Deutschland und Österreich gegründet. Was wollten Sie damit erreichen und was haben Sie erreicht?

1982 gründete ich die Literaturhandlung an der Münchner Fürstenstraße, eine auf Literatur zum Judentum spezialisierte Fachbuchhandlung. Nicht die Herkunft der Autoren stand im Zentrum, sondern das Judentum. Mir ging es darum, all die von den Nationalsozialisten nach der Bücherverbrennung vertriebenen oder später ermordeten Autoren hier wieder zu beheimaten und einzubürgern. Es ging nicht mehr und nicht weniger um die Rekonstruktion der jüdischen Geisteswelt. In mehr als 40 Jahren konnte ich sie in dem deutschen Literaturkanon heimisch machen. Was als Pionierarbeit begann, ist heute zu einer Selbstverständlichkeit geworden: In eine Buchhandlung mit Literatur zum Judentum gehen, so als hätte es sie schon immer gegeben.

Der Judenhass hierzulande ist wieder aufgeflammt. Bundeskanzler Friedrich Merz erklärte bei der Eröffnung der „Reichenbachschul“, er sage jeglicher Form von Antisemitismus namens der gesamten Bundesregierung den Kampf an. Kann dieser Kampf gewonnen werden?

Ob der Antisemitismus besiegt werden kann, ist eine Frage, die Sie Nichtjuden stellen müssen.

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Berühmte Holocaust-Überlebende wie Max Mannheimer und Margot Friedländer haben immer wieder öffentlich über ihr Schicksal gesprochen, vor allem in Schulen. Wie kann die Erinnerung an dieses schwarze Kapitel deutscher Geschichte wach gehalten werden, auch ohne sie?

Als ich damit begann, die DP-Geschichte öffentlich zu machen, herrschte wie im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland laut Umfragen vollkommene Unkenntnis. Neben Aufsätzen und Vorträgen brachte ich das Buch „Ein Leben aufs Neu“ heraus, 1995 veranstaltete ich im Münchner Stadtmuseum den ersten internationalen Kongress über DP-Lager. 2008 organisierte ich im Jüdischen Museum ein erstes Föhrenwalder-Treffen, zu dem über 100 Ehemalige aus aller Welt kamen. Es hat lange gedauert, bis die Geschichte der DP-Lager in der deutschen Geschichtsschreibung und in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde.

Der Erinnerungsort Badehaus hat einen wichtigen Teil dazu beigetragen, dass die DP-Lager nicht in Vergessenheit geraten. Wie gefällt Ihnen die Dokumentationsstätte?

Mit dem Erinnerungsort Badehaus ist aufgrund des großen Engagements von Sybille Kraft ein Ort entstanden, in dem diese Geschichte rekonstruiert und aufbewahrt wird.

Welche Gefühle überkommen Sie, wenn Sie heute durch die Straßen der Wohnsiedlung Waldram laufen?

Föhrenwald als Stadtteil von Wolfratshausen hat sich fast bis zur Unkenntlichkeit verändert. In den vergangenen Jahrzehnten habe ich durch meine häufigen Besuche die Veränderungen miterlebt. Es fing 1957 mit dem Austausch der Bewohner an. Nach den Juden kamen mit dem Erwerb der Siedlung durch die Erzdiözese München und Freising die Vertriebenen. Sie änderten die Straßennamen mit amerikanischen Bundesstaaten in Namen mit katholischen Heiligen. Meine Familie und ich wohnten in der New Jersey 32.

tal

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