Experte: Nur mit einem Trick kann sich Selenskyj aus Putin-Schlinge befreien

Es klang wie ein Durchbruch. Oder wenigstens ein großer Schritt in Richtung Frieden im Ukraine-Krieg. Die Rede ist von einem 28-Punkte-Plan, über den in der vergangenen Woche immer mehr bekannt wurde. 

Zunächst hieß es, russische und US-amerikanische Vertreter hätten Geheimgespräche geführt und gemeinsam einen Entwurf erarbeitet. In der Nacht zum Sonntag behauptete US-Außenminister Marco Rubio dann, der Friedensplan "wurde von den USA verfasst".

Ganz gleich, wer wirklich der Urheber ist: Das Papier verlangt der Ukraine in der ersten Version große Zugeständnisse an Russland ab. Dazu gehören Gebietsabtretungen, eine Verringerung der Truppenstärke und der Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft.

"28 Punkte sind eine Optionenliste, die der realen Lage nahekommt"

"Inhaltlich sind die 28 Punkte eine Optionenliste, die der realen Lage sehr nahekommt", sagt Klemens Fischer zu FOCUS online. Auch wenn der Friedensplan für die Ukraine eine "bittere Pille" und "von Gerechtigkeit weit entfernt" sei.

Fischer arbeitet als Professor für Geopolitik und Internationale Beziehungen an der Universität zu Köln. Er kennt sich auf diplomatischem Parkett aus und gehörte rund 30 Jahre lang der österreichischen EU-Botschaft in Brüssel an.

Fischer glaubt, dass es für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenksyj jetzt um alles geht. "Er kann ein Ende des Krieges aus militärischen Gründen nicht mehr lange hinauszögern, muss aber versuchen, den Eindruck der Kapitulation zu vermeiden", so der Geopolitik-Professor.

Für Selenskyj ist die Situation ernst: Könnte politisches Ende bedeuten

Vertreter der USA, der Ukraine und mehrerer EU-Staaten hatten am Wochenende in Genf über Änderungen an dem Entwurf gesprochen, allerdings kaum Details öffentlich gemacht. Insider sagten zu "CBS News", dass Selenskyj noch diese Woche in die USA reisen könnte, um die heikelsten Aspekte des Friedensplans und der Änderungen daran mit Trump zu besprechen. 

In einer gemeinsamen Erklärung am Montag hieß es jedenfalls: "Die Ukraine und die Vereinigten Staaten vereinbarten, die intensive Arbeit an gemeinsamen Vorschlägen in den kommenden Tagen fortzusetzen."

Wie Fischer betont, ist die Unterstützung der Vereinigten Staaten essentiell für die Ukraine. Seit Beginn der Invasion im Februar 2022 hat Washington eine Vielzahl an Waffensystemen, Fahrzeugen, Drohnen und Ausrüstung an die Ukraine geliefert. Wichtig sind zudem die Aufklärungserkenntnisse, die Washington übermittelt.

Ohne den Rückhalt der USA würde es für das Land auf dem Schlachtfeld noch enger werden als ohnehin schon. Für den ukrainischen Präsidenten spitzt sich die Lage in mehrerlei Hinsicht zu. Denn: Müsste Selenskyj Gebietsabtretungen zustimmen, "so bedeutet das vermutlich sein politisches Ende", glaubt Fischer.

Die einzige Chance für Selenskyj: Ein Verhandlungstrick

Die einzige Chance für den ukrainischen Präsidenten, unbeschadet aus der aktuellen Situation herauszukommen, besteht in seinen Augen darin, einem Vertragsentwurf zuzustimmen, der Russland fast alles zugesteht - aber einen für Moskau inakzeptablen Punkt enthält.

So könnte der ukrainische Präsident die Schuld am Scheitern der Gespräche Kreml-Chef Wladimir Putin anlasten - "und die USA als Verbündeten halten". 

Klar ist: Auf beiden Seiten gibt es rote Linien. Moskau lehnt beispielsweise einen Nato-Beitritt der Ukraine ab. Die Ukraine will bei ihren Verteidigungskräften keine Abstriche machen und ihre Bündnisse selbst wählen. 

Wladimir Putin
Russische Medien gehen davon aus, dass Wladimir Putin dem 28-Punkte-Friedensplan für die Ukraine nicht zustimmen wird. Alexander Zemlianichenko/Pool AP/AP/dpa

Dass die USA für Kiew ein wichtiger Partner sind, betont auch Thomas Jäger, Außenpolitik-Professor an der Universität zu Köln. Man wolle sie keinesfalls verprellen. 

"Waffenlieferungen aus den USA, auch wenn sie von europäischen Staaten gezahlt werden, sind für die ukrainische Kriegsführung derzeit schwer zu ersetzen", sagt er im Gespräch mit FOCUS online.

Jäger betrachtet den 28-Punkte-Plan als "Kapitulationserklärung, die die Ukraine unterschreiben soll". Donald Trump versuche, das Land dahingehend zu erpressen, so der Politologe. Immerhin hatte der US-Präsident noch am Freitag erklärt, dass die Ukraine dem Plan bis Donnerstag zustimmen soll. 

"Jedes Zerwürfnis innerhalb der Nato wird im Kreml gefeiert"

Andernfalls würden die USA wichtige Aufklärungsdaten und Geheimdienstinformationen sowie Waffenlieferungen an die Ukraine zurückhalten, hieß es aus Washington. Mittlerweile relativierte Trump seine Aussagen. Der Krieg müsse "auf die eine oder andere Weise enden", sagte er zu Journalisten. Der Friedensplan ist demnach wohl nicht sein letztes Angebot.

Putin reagierte am Freitag gewohnt kühl auf das 28-Punkte-Papier. "Ich glaube, dass auch dieser Plan als Grundlage für eine endgültige Friedenslösung dienen kann", sagte er bei einer Sitzung des Sicherheitsrates der Russischen Föderation. Gleichzeitig wies der Kreml-Chef darauf hin, dass die Details noch besprochen werden müssten.

"Man könnte es als 'Klassiker' bezeichnen", sagt Fischer. "Putin wartet ab, wie sich die Lage zwischen den USA auf der einen sowie der Ukraine und den Europäern auf der anderen Seite entwickelt." Anders ausgedrückt: Der Kreml-Chef spielt auf Zeit.

Russlands Position sei stark, weil die USA unbedingt - nicht zuletzt mit Blick auf den Pazifik - aus dem Krieg aussteigen wollen, erklärt Fischer. Gleichzeitig hätten die Ukrainer immer weniger Truppen zur Verfügung und die Europäer keine Hebel, um die USA als Partner zu ersetzen oder Russland zu Zugeständnissen zu zwingen.

"Die USA aus Europa zu treiben, ist eines der größeren Ziele hinter Russlands Krieg" 

"Putin will die Ukraine einnehmen. Militärisch, wenn es sein muss. Über eine Kapitulation der Ukraine mithilfe von Trump, wenn es gelingt", meint auch Jäger. Der russische Präsident gehe davon aus, dass die Zeit für ihn arbeitet, weil sich die USA aus Europa verabschieden würden und Moskau auf Chinas Unterstützung bauen könne.

Dass sich die Europäer eingemischt und Vorschläge für Änderungen am 28-Punkte-Plan gemacht haben, stößt Moskau offenbar übel auf. "Uns passt das nicht", sagte Putins außenpolitischer Berater Juri Uschakow der russischen Agentur Interfax zufolge. Bei den "Verbesserungen" der ersten Friedensplan-Version soll es unter anderem um verstärkte Sicherheitsgarantien für die Ukraine gehen.

Russland befasse sich mit dem, was auf offiziellem Weg übermittelt worden sei, betonte Uschakow. Er bezog sich wohl auf den ursprünglichen 28-Punkte-Plan. Über diesen Entwurf sei Russland zu Gesprächen mit der US-Seite bereit.

"Wenn der Plan so umgesetzt würde, bereitet er den nächsten Krieg in Europa vor"

Fischer glaubt, dass ein möglicher Frieden in der Ukraine näher gerückt ist "und zwar so und anders". Mit "anders" meint er einen früheren Vorschlag zur Lösung des Konflikts. "Im Nachhinein ist es einfach, zu urteilen, dass es besser gewesen wäre, 2022 dem Istanbul-Kompromiss zuzustimmen, da weniger Gebiete verloren gegangen und weniger Menschen gestorben wären", meint der Geopolitik-Professor. 

Damals hatten sich russische und ukrainische Unterhändler zu Friedensverhandlungen getroffen. Die Ukraine bot eigenen Angaben zufolge Neutralität im Gegenzug für Sicherheitsgarantien an. Die Gespräche scheiterten letztlich.

Jäger urteilt härter als Fischer über den 28-Punkte-Plan und dessen Folgen. "Er wird entweder in den jetzigen Gesprächen zerrieben oder bereitet, falls er so umgesetzt würde, den nächsten Krieg in Europa vor", sagt er.

Denn wenn Russland die Ukraine beherrsche, werde es weiter nach Westen drängen, so der Außenpolitik-Experte. "Es wird die hybriden Kriege gegen europäische Staaten ausweiten und auch vor einem militärischen Angriff auf baltische Staaten nicht zurückschrecken. Diese waren Teil der Sowjetunion und Putin will zumindest das Gebiet beherrschen, das Stalin erobert hatte, wenn möglich aber auch mehr."