Wirtschaftweise fordert Sozialkürzungen – wo noch gespart werden kann

Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm hat der Funke Mediengruppe am Wochenende ein Interview gegeben, das Aufmerksamkeit erregt hat. „Wir brauchen in der Renten-, Pflege- und Krankenversicherung mehr Ehrlichkeit darüber, welche Leistungen wir uns wirklich leisten können und welche nicht“, sagte sie anlässlich des gerade von der Bundesregierung verabschiedeten Rentenpaketes. Dinge wie die dort vereinbarte Haltelinie, wonach die Standardrente 48 Prozent des Durchschnittslohns bis 2031 nicht unterschreiten solle, seien auf Dauer nicht finanzierbar. Auch in der Kranken- und Pflegeversicherung werden die Ausgaben immer größer: „Das heißt auch, dass wir mitunter Leistungen werden kürzen müssen“, schloss die Ökonomin. Grimm beschäftigt sich in ihrer täglichen Arbeit als Professorin für Energiesysteme eher selten mit dem Sozialstaat, ist aber durch ihre Arbeit im Sachverständigenrat der Bundesregierung (den Wirtschaftsweisen) auch in solche Fragen eingebunden. Wie sind ihre Aussagen also zu bewerten?

So schlimm ist die Lage der Sozialversicherungen wirklich

Mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung leiden alle deutschen Sozialversicherungen stark unter dem demografischen Wandel. Der führt einerseits dazu, dass in den kommenden 20 Jahren sehr viele Menschen in Deutschland in den Ruhestand treten und zweitens dazu, dass diese auch immer älter werden als früher. Was für den einzelnen exzellent ist, ist für die Gesellschaft ein finanzielles Problem. Mehr Rentner bekommen auch mehr Renten ausgezahlt, für die wiederum relativ gesehen immer weniger Erwerbstätige Beiträge zahlen. Zudem werden Senioren häufiger krank oder zu Pflegefällen, was die Kosten in Kranken- und Pflegeversicherung erhöht.

Aktuell liegen die Beiträge zu den Sozialversicherungen bereits bei 43,1 Prozent des Bruttolohns für Alleinlebende ohne Kinder. Sie setzen sich aus 18,6 Prozent für die Rentenversicherung, 14,6 Prozent für die Krankenversicherung plus durchschnittlich 3,1 Prozent Zusatzbeitrag, 4,2 Prozent für die Pflegeversicherung und 2,6 Prozent für die Arbeitslosenversicherung zusammen. Jeweils die Hälfte davon trägt der Arbeitgeber. Der Rentenbeitrag wird sich ab 2027 auf 18,8 und bis 2031 auf 20,3 Prozent erhöhen. Auch für Kranken- und Pflegeversicherung sind Beitragserhöhungen absehbar, wenngleich noch nicht beschlossen. Laut Grimm könnten die gesamten Sozialbeiträge bis Ende 2028 bereits auf 45 Prozent steigen.

Trotzdem muss die Bundesregierung noch viel Geld hinzuschießen. Allein die Rentenversicherung erhält dieses Jahr 122,5 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt, weitere knapp 17 Milliarden Euro gehen an die Krankenkassen. Auch diese Summe dürften sich in den kommenden Jahren weiter erhöhen. Sie machen heute schon rund ein Drittel aller Staatsausgaben aus.

Neben den Sozialversicherungen gibt es noch weitere Sozialleistungen, die direkt aus Steuergeldern bezahlt werden. Dazu zählt etwa das Bürgergeld inklusive der Beihilfen für Wohnungen und Heizung, Kindergeld, Elterngeld, Kinderzuschuss, Wohngeld und vieles mehr.

Hier könnte der Staat sparen

Das Problem mit Kürzungen bei Sozialleistungen ist, dass sie ihrem Zweck nach an Menschen ausgezahlt werden, die diese Leistungen nicht aus eigener Tasche finanzieren könnten. Müsste jeder von uns die Behandlung für ein gebrochenes Bein oder schlimmer noch eine Krebstherapie selbst bezahlen, wären die meisten schnell bankrott. Gleiches gilt bei Pflegefällen. Bei der Rente haben Beitragszahler mit ihren Einzahlungen nicht nur Ansprüche erworben, Menschen mit niedrigem Einkommen hätten ohne die Gesetzliche Rentenversicherung gar keine Chance, privat genug vorzusorgen, um im Ruhestand über dem Existenzminimum leben zu können. Gleiches gilt für Arbeitslose, die auf die Grundsicherung des Bürgergelds angewiesen sind, um ein Dach über dem Kopf und Essen auf dem Tisch zu haben. Dies erklärt auch, warum Rufe nach Kürzungen bei Sozialleistungen wie jetzt von Grimm stets emotionale Gegenreaktionen auslösen. „Wer soll denn nicht mehr versorgt oder gepflegt werden?“, fragte etwa Andreas Audretsch, stellvertretender Fraktionschef der Grünen, rhetorisch als Reaktion auf das Interview.

Wenn der Staat direkt an Leistungen sparen will, geht das am besten dort, wo diese nicht zielgerichtet sind. Damit ist gemeint, dass Menschen Sozialleistungen erhalten, die diese gar nicht benötigen würden. Betreffen würde das meist die Leistungen für wohlhabendere Menschen, zum Beispiel:

  • Kindergeld wird bisher einkommensunabhängig gezahlt. 255 Euro gibt es pro Kind und Monat dabei. Für Menschen mit niedrigem Einkommen ist das notwendig, damit diese ihre Kinder ernähren, behausen und ausstatten können. Für Menschen mit hohem Einkommen sind 255 Euro mehr oder weniger pro Monat kein signifikanter Unterschied. Wer etwa 100.000 Euro brutto im Jahr verdient, für den macht Kindergeld nur rund fünf Prozent seines Nettoeinkommens aus. Wer aber nur 30.000 Euro brutto pro Jahr verdient, für den sind es fast 15 Prozent.
  • Elterngeld wird nicht vollkommen unabhängig vom Einkommen gezahlt, hat aber eine hohe Grenze, bis zu der Sie es bekommen können. Diese liegt, nach hitzigen Diskussion vor zwei Jahren, mittlerweile bei 175.000 Euro zu versteuerndem Einkommen. Das entspricht bei Paaren etwa 320.000 Euro Bruttoeinkommen pro Jahr. Auch hier ließe sich die Grenze bequem auf zum Beispiel 80.000 Euro zu versteuerndes Einkommen absenken, ohne dass irgendein Elternteil um seinen Lebensunterhalt fürchten müsste.
  • Ehepartner werden in der Familienversicherung meist ohne eigene Beiträge zu zahlen, mitversichert, sofern sie unter einer bestimmten Einkommensgrenze liegen. Entscheidend dafür ist aber eben das alleinige Einkommen des Partners, nicht das gesamte Haushaltseinkommen. Der Ehepartner eines Spitzenverdieners wird so also kostenlos versichert, obwohl das Einkommen locker ausreichen würde, um Beiträge für beide Personen zu zahlen.
  • Dazu gibt es einige weitere Sozialleistungen, die einkommensunabhängig gezahlt werden, zum Beispiel Mutterschaftsgeld oder kostenlose Kita-Plätze in einigen Bundesländern.

Das Einsparpotenzial ist gering

Was sich auf den ersten Blick erkennen lässt: Hier lässt sich nicht viel Geld sparen. Als die damalige Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) 2023 ankündigte, die Einkommensobergrenze für das Elterngeld von 300.000 auf 150.000 Euro zu senken, ging es gerade einmal um eine Ersparnis von 500 Millionen Euro. Das ist zwar immer noch eine Menge Geld, aber ein winziger Bruchteil aller deutschen Sozialausgaben. Die oben aufgeführten Kürzungen bei Kindergeld oder der Familienversicherung würden kaum mehr Geld einbringen.

Wer also wirklich Sozialleistungen wirksam kürzen will, der müsste an die Leistungen für Bedürftige heran oder an die von Bürgern erworbenen Ansprüche. 20 Euro weniger Bürgergeld wären bereits 1,3 Milliarden Euro weniger Ausgaben pro Jahr, die Haltelinie bei der Rente von 48 auf 47 Prozent zu senken sogar rund 7,1 Milliarden Euro pro Jahr.

Aber: Nicht alles ist machbar. Die Bürgergeld-Sätze sowie die Grundsicherung im Alter sind bereits auf dem minimalen Niveau, dass das Bundesverfassungsgericht erlaubt – dem Existenzminimum. Auch Leistungen für Asylbewerber haben dieses Minimum bereits erreicht. Zwar ließe sich hier Geld umschichten, indem etwa ukrainische Flüchtlinge statt Bürgergeld Asylbewerberleistungen bekommen, doch auch da wäre die Ersparnis sehr gering. Die aus Rentenbeiträgen erworbenen Ansprüche dürfen ebenfalls nicht gekürzt werden – die Bundesregierung könnte hier lediglich die Berechnungsformeln so verändern, dass die Renten in den kommenden Jahren weniger stark steigen. Gleiches gilt für die Beamtenpensionen. Und Leistungen für Kinder, Familien und Menschen mit Behinderung dürfen ebenfalls nicht so weit gekürzt werden, dass deren soziale Teilhabe gefährdet wäre.

Welche anderen Lösungen gibt es dann?

Diese Frage stellt sich auch die Bundesregierung. Sie will diese an Experten auslagern. Gleich mehrere Kommissionen sollen noch dieses und kommendes Jahr gebildet werden. Eine soll sich mit grundlegenden Reformen des Sozialstaates beschäftigen, eine andere speziell mit dem Gesundheitssystem, eine dritte mit dem Pflegesystem und eine vierte mit dem Rentensystem.

Leistungskürzungen dürften bei deren Empfehlungen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Vielmehr wird es darum gehen, die Einnahmenseite zu verbessern. Dazu ließen sich etwa die Beitragsbemessungsgrenzen erhöhen oder abschaffen, die Spitzenverdiener derzeit vor gleich hohen Beiträgen schützen. Aber auch die Effizienz des Systems dürfte an vielen Stellen Optimierungsbedarf haben. Allein im Gesundheitssystem ließen sich nach einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey mit Digitalisierung 42 Milliarden Euro pro Jahr einsparen. Davon würden Versicherte weit mehr profitieren als von Leistungskürzungen.