Die Deutschen steuern auf die Renten-Katastrophe zu – sie wollen es genau so
Eine Rentenreform wird nicht kommen, nicht unter einer schwarz-roten Koalition.
- Dafür spricht vor allem die jahrzehntelange Weigerung der Union, einen Kollaps der Rentenversicherung zu verhindern.
- Dafür spricht die Weigerung von Friedrich Merz, das Renteneintrittsalter zu erhöhen.
- Dafür spricht die Weigerung der SPD-Chefin, Sozialministerin Bärbel Bas, über derlei überhaupt nachzudenken.
Und dafür sprechen zwei Zahlen: 84 Prozent der deutschen Bevölkerung sind überzeugt, dass es zu einer Anhebung des Renteneintrittsalters kommen wird. Aber nur 23 Prozent der Deutschen finden das akzeptabel.
Und: 78 Prozent der Bevölkerung sind überzeugt, dass die Renten sinken werden. Aber ganze sieben Prozent finden das akzeptabel.
Bei der Rente ist die Erkenntnis da, doch der Wille fehlt
Diese Zahlen hat das seriöse Institut für Demoskopie in Allensbach erhoben für die "FAZ". Die Meinungsforscher vom Bodensee leiten aus den von ihnen erhobenen Zahlen einen so naheliegenden wie desillusionierenden Befund ab:
„Weite Teile der Bevölkerung erkennen, was eigentlich notwendig wäre, doch sie scheinen fest entschlossen zu sein, wie Herzog (der damalige „Ruck“-Reden-Bundespräsident) es ausdrückte, so lange wie möglich den Weg des geringsten Widerstands zu gehen.“
Deutschland ist ein strukturkonservatives Land – lieber in bescheidenem Wohlstand einigermaßen sicher zu leben als Risiken einzugehen. Auch dies haben die Allensbacher Forscher ermittelt. Überraschend ist es nicht. In Deutschland vertrauen weniger Bürger Aktien als anderswo.
Vier Gründe sprechen gegen eine Groß-Reform
Eine Rentenreform wird in dieser Legislaturperiode nicht kommen, denn: Sie müsste gegen die Status-Quo-Interessen der Mehrheit der Deutschen durchgedrückt werden. Das ginge vielleicht sogar, wenn die Politik selbst etwas riskieren und sich selbst zutrauen würde, es der Bevölkerung zu erklären.
Union und SPD tun aber das glatte Gegenteil, was man an vier Entwicklungen erkennen kann:
Erstens: Der Bundeskanzler hat noch im Wahlkampf eine Anhebung der Altersgrenzen definitiv ausgeschlossen. „Die 67 steht“, hatte Friedrich Merz beim Politischen Forum in Essen gesagt.
„Seine“ Wirtschaftsministerin Katherina Reiche, die zuletzt damit ankam, hat zwar vollkommen recht, hätte sich ihren Vorstoß aber besser gleich sparen können, denn: Ihr eigener Parteichef will keine Anpassung der Renten an die Lebenserwartung. Reiche blieb mit ihrem Vorstoß in der Union so einsam wie ein Tropfen Wasser in der Sahara.
Bärbel Bas lehnt höheres Renteneintrittsalters rundheraus ab
Zweitens: Die SPD-Chefin Bärbel Bas hat eine Erhöhung des Renteneintrittsalters rundheraus abgelehnt. Dies sei eine Rentenkürzung, die mit der SPD nicht infrage komme. Was sollte die SPD dazu bewegen, ihre Meinung zu ändern, und das auch noch gegen die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, und das obendrein als schrumpfende Partei, die ihren größten Zuspruch ohnehin Rentnern verdankt?

Drittens: Die Bundesregierung hat zuletzt das Gegenteil einer grundlegenden Rentenreform beschlossen, nämlich neue soziale Renten-Wohltaten. Die CSU hat mit der SPD in einer Koalition der Sozial-Parteien (Christlich „Soziale“ Union…) eine Rentenerhöhung für ältere Mütter durchgesetzt. Und die SPD hat in der Koalition mit der Union die 48-Prozent-Grenze bei der Rente bis ins nächste Jahrzehnt festgeschrieben.
Viertens: Im Koalitionsvertrag steht auch keine Rentenreform, sondern: die Arbeit an einer Rentenreform in einer Kommission, was bedeutet: Im Koalitionsvertrag steht de facto eine Nicht-Rentenreform.
Die Rentenkommission startet nach der Sommerpause. Ergebnisse werden für die zweite Hälfte des kommenden Jahres erwartet. Danach stehen allerdings Landtagswahlen an, und zwar in den beiden größten Bundesländern.
NRW und Bayern wählen - wer geht dann an die Renten?
Nordrhein-Westfalen wählt 2027, Bayern 2028. Glaubt jemand im Ernst, Hendrik Wüst und Markus Söder würden vor ihren Landtagswahlen eine große Rentenreform verabschieden unter den Buh-Rufen der Bevölkerung, der Sozialverbände, der Gewerkschaften, der Linken, der AfD, der Kirchen…?
Die aktuelle Allensbach-Umfrage setzt an bei der Ruck-Rede von Bundespräsident Herzog von 1997. Damals mahnte der CDU-Mann – er verfügte über eine gewaltige Autorität, war er doch zuvor jahrelang hochgeachteter Präsident des Bundesverfassungsgerichts gewesen – unausweichliche Sozial-Strukturreformen an. Ausdrücklich warnte Herzog seinerzeit:
„Wer die großen Reformen verschiebt oder verhindern will, muss aber wissen, dass unser Volk insgesamt dafür einen hohen Preis zahlen wird.“
Den hohen Preis zahlt „unser Volk“ inzwischen: Die Jungen können nicht mehr mit einer auch nur halbwegs auskömmlichen Rente im Alter rechnen. Und die Steuerfinanzierung der Rente steigt Jahr für Jahr an, zuletzt auf mehr als 116 Milliarden, was mehr ist als die komplette „Zeitenwende“ bei der Bundeswehr wegen der Russen.
Der erste Illusionskünstler war Adenauer
Die Umlagefinanzierung der Rente hat sich längst erledigt. Sie war eine Illusion. Eigentlich mehr als das: ein parteipolitisch motivierte Falschaussage. Denn: 1957 wurde die heutige Rente eingeführt. Der „Vater des Wirtschaftswunders“, Ludwig Erhard, war dagegen. Konrad Adenauer setzte sie gegen den wirtschaftlichen Sachverstand seines eigenen Wirtschaftsministers durch, mit der legendären Fehlprognose: „Kinder kriegen die Leute sowieso.“
Erhard wusste schon vor 70 Jahren, dass Adenauers Rente auf Sand gebaut war. Hinter Adenauers wirtschafts- und sozialpolitischer Ignoranz stand ein parteipolitisches Kalkül, das auch aufging: Am 15. September 1957 verhalfen die Deutschen zum ersten und einzigen Mal in der deutschen Geschichte einer Bundesregierung zur absoluten Mehrheit. Der Grund war die Freude über Adenauers Renten-Geschenk.
Die Mehrheit will „den Weg des geringsten Widerstands“
Schon damals hätten es die Deutschen besser wissen können. Sie wollten es aber nicht besser wissen. Der Befund von damals deckt sich frappierend mit dem frischen Befund von Allensbach 70 Jahre später – die Mehrheit will so lange wie möglich „den Weg des geringsten Widerstands“ gehen.
Die „Insolvenz“ (Arbeitgeberverbände) auch der Rentenversicherung ist die am besten vorhergesagte sozialpolitische Katastrophe in Deutschland. Das liegt nicht einmal an Roman Herzog. Schon lange vor ihm hat eine weitere Koryphäe den Kollaps der derzeitigen Rentenversicherung so präzise wie mutig vorhergesagt.
Biedenkopf und Herzog sagten die Pleite voraus
Kurt Biedenkopf, der erste Ministerpräsident von Sachsen nach der Wiedervereinigung, hatte auch ein Vorleben. Und zwar als Universitätsprofessor, er brachte es zum Rektor der Ruhr-Universität Bochum. Biedenkopf war als Sozialforscher sehr einflussreich – auf ihn geht etwa das Mitbestimmungsgesetz zurück.
Schon Anfang der 80er Jahre sagte Biedenkopf das Scheitern des deutschen Rentensystems voraus – und machte Gegenvorschläge. Die jedoch wollte „Adenauers-Enkel“, der CDU-Parteichef und Bundeskanzler Helmut Kohl, nicht hören. „Es war völlig aussichtslos“, bilanzierte der Polit-Rentner Biedenkopf Jahre danach.
Statt Reformen ließ Kohl seinen Rekord-Arbeitsminister Norbert Blüm die Leer-Formel verkünden: „Die Rente ist sicher.“ Es war die Meisterformel der Volksberuhigung, ganz in der Tradition Adenauers.
Herzog wusste ganz genau, an wen er seine „Ruck-Rede“ adressierte – nämlich an die regierende Partei und deren regierenden Bundeskanzler – Helmut Kohl. Herzog kannte seine Partei und deren strukturelle Sozialreform-Unwilligkeit sehr genau. Kohl hat auch – erwartungsgemäß – nicht auf Herzog gehört. Trotzdem gab es dann doch noch einen Renten-Ruck-Reform. Die aber verantwortete ein anderer Bundeskanzler. Ein Sozialdemokrat – Gerhard Schröder.
Die einzige Renten-Strukturreform, die zur Eindämmung der Kosten je in Deutschland gemacht wurde, stammt von Franz Müntefering – die „Rente mit 67“. Die erzwungene Verlängerung der Lebensarbeitszeit war nichts anderes als eine Rentenkürzung.

Die einzige Reform machte Müntefering
Das ist genau das, was die Müntefering-Nach-Nachfolgerin Bärbel Bas jetzt vehement ablehnt. Was man ihr angesichts der strukturellen Reformunwilligkeit der Deutschen auch nicht vorwerfen kann, denn: Schröders Agenda 2010, so nötig sie war, ganz im Sinne Herzogs, kostete die Sozialdemokraten 2005 die Macht. Seitdem, seit nunmehr 20 Jahren, wollen sie von Sozial-Reformen nichts mehr wissen. Es sei denn: Es kann etwas beschlossen werden, was mehr Geld in die Kassen spült.
In der Finanzpolitik sind Genossen deshalb abonniert auf Steuer-Erhöhungen, in der Sozialpolitik auf eine Teil-Enteignung von „Besserverdienenden“. Deshalb wollen Sozialdemokraten, dass Beamte in die Rentenversicherung einbezogen werden – Parteichefin Bas schlug dies vor. Oder haben Sympathie für den (im Kern sozialdemokratischen) Vorschlag von Marcel Fratzscher, eine Renten-Umverteilung von reich zu arm zu veranstalten – den „Boomer-Soli“.
Bei der Union ist es in punkto Sozialreform kaum besser. Katherina Reiches Vorschlag, „wir müssen mehr und länger arbeiten“, lehnen selbst die Unionsanhänger ab – nur jeder vierte Wähler von CDU/CSU hat dafür Sympathie. Bei den SPD-Wählern sind es karge 13 Prozent. Die höchste – relative – Zustimmung gibt es noch bei den Grünen: knapp 30 Prozent.
Seit wann sind Merz und Klingbeil politische Selbstmörder?
Politisch gewendet: Weshalb sollten ein Unions-Bundeskanzler und ein SPD-Bundesvizekanzler eine Rentenreform machen, die 80 bis 90 Prozent ihrer eigenen Anhänger ablehnen? Seit wann sind Friedrich Merz und Lars Klingbeil politische Selbstmörder?
Je älter Deutschland wird, desto unmöglicher wird eine Rentenreform. Das war die Biedenkopf-Formel. Sie stimmt auch heute noch. Beide, die Union wie die SPD, sind Sozial-Parteien. Für die Union heißt das: Weder war sie je eine konservative noch je eine liberale Partei. Sie dafür zu halten, ist einer der am weitesten verbreiteten Irrtümer.
Die Anmutung, die Union sei eine konservative oder gar liberale Partei, wird liebevoll gepflegt. Als Feindbild von SPD, Linken und Grünen.
Und als Illusion: Von späteren Unions-Bundeskanzlern in ihren Wahlkämpfen. Das Talkshow-bewährte Synonym für das Nicht-Konservative und das Nicht-Liberale heißt bei der Union sozial-versöhnlich: „Volkspartei“.