„Blitzkrieg“ und „Vergeltung“: Ukraine sperrt Korruptionsjäger ein – Selenskyj im Fokus
Ein neues Gesetz erschwert die Arbeit ukrainischer Antikorruptionsbehörden. Ermittler werden verhaftet. Ein Verantwortlicher hofft auf europäische Hilfe.
Kiew – Durch den Ukraine-Krieg ist das überfallene Land näher zusammengerückt. Denn nur gemeinsam kann es den Ukrainern gelingen, Russlands Truppen zurückzuschlagen und zu einer Art Normalität zurückzukehren. Die scheint rund um Kiew aktuell aber auch aus einem anderen Grund fern. Denn infolge eines neuen Gesetzes, das die Kompetenzen der Antikorruptionsbehörden beschneidet, steht die Gesellschaft vor einer Zerreißprobe.
Die Bürger gehen auf die Straßen, um ihrem Unmut über das Vorgehen Ausdruck zu verleihen. Zudem erschwert das Gesetz die Bemühungen, der EU beizutreten. Es gibt also mehrere Gründe, warum der ebenfalls in die Kritik geratene Präsident Wolodymyr Selenskyj sich darum bemüht, die Wogen zu glätten. So soll das Parlament an diesem Freitag (1. August) darüber abstimmen, ob dem Nationalen Antikorruptionsbüro (Nabu) und der Spezialisierten Antikorruptionsanwaltschaft (Sap) die Unabhängigkeit zurückgegeben wird. Wie Sap-Leiter Olexander Klymenko klarstellt, ist aber Hilfe der europäischen Partner vonnöten.
Ukrainische Korruptionsjäger hinter Gittern: „Ging darum, Medienrummel zu erzeugen“
Er äußert sich im Interview mit der Zeit darüber, dass Ermittler von Nabu seit zwei Wochen in Haft sitzen würden. Einem von ihnen würden Verbindungen zu Russland vorgeworfen, weil auf einer Tonbandaufnahme zu hören sei, wie er die russische Republik Dagestan erwähne. „Für die meisten klingt es aber so, als würde er vom Land Usbekistan sprechen“, betont Klymenko.
Seiner Meinung nach sind die Hausdurchsuchungen und Festnahmen als Zeichen an die Öffentlichkeit zu verstehen gewesen: „Es ging darum, Medienrummel zu erzeugen, nach dem Motto: ‚Wir müssen sie unter Kontrolle bringen, schaut, was sie treiben, sie sind außer Kontrolle und arbeiten im Grunde für die Russen.‘“
Dass der Angriff über das Parlament ausgeübt wurde, sei überraschend gewesen, alles sei „dazu extrem schnell“ durchgesetzt worden: „Das Ganze war als eine Art Blitzkrieg geplant.“ Es habe sich jedoch nur um eine kleine Gruppe gehandelt, die Parlamentarier wurden wohl erst sehr spät eingeweiht: „Ich bin überzeugt, dass die meisten Abgeordneten nicht einmal den Gesetzentwurf gelesen haben, für den sie gestimmt haben.“
Antikorruptionsbehörden in Ukraine ausgebremst: „Whistleblower haben Zusammenarbeit eingestellt“
Die Attacke habe sich zwar angebahnt, um internationale Unterstützung hätten die Korruptionsjäger aber vergeblich ersucht. So seien die G7-Staaten um Hilfe gebeten worden: „Aber es kam keine Reaktion. Alle sagten: ‚Ja, ja, ja.‘ Objektiv betrachtet hat niemand etwas getan.“
Laut Klymenko wurden die Beschneidungen der Kompetenzen erst dadurch möglich, dass seit Beginn des Jahres „der Druck und das Interesse der USA deutlich abgenommen“ hätten. Demnach also augenscheinlich seit der Rückkehr von Donald Trump als US-Präsident. Die entstandene Lücke habe Europa nicht aufgefüllt. Dabei wären die bisherigen Errungenschaften der Antikorruptionsbehörden ohne internationale Interventionen nicht möglich gewesen: „Der internationale Druck hat in den letzten elf Jahren unser Überleben ermöglicht.“

Wie es weitergeht, ist völlig unklar. Und das wohl unabhängig vom Ausgang der Abstimmung im Parlament. „Die Ermittler beim Nabu sind derzeit demoralisiert und verängstigt“, gibt Klymenko zu bedenken. Einer habe sich nach der Durchsuchung geweigert, seinen Fall weiterzuverfolgen.
Aber nicht nur die Mitarbeiter der Behörden überlegen sich nun wohl zweimal, wie sie künftig agieren werden. Klymenko verweist auch auf die Sorgen ihrer geheimen Quellen: „Die meisten unserer Whistleblower haben die Zusammenarbeit eingestellt, weil sie Angst haben, dass Informationen durchsickern und sie aufgedeckt werden.“ Seit zwei Wochen herrsche völliger Stillstand bei den Ermittlungen.
Korruptionsjäger in Ukraine unter Druck: Wollen „uns die Unabhängigkeit nehmen“
Für ihre Gegner sei es darum gegangen „Vergeltung“ für die effektive Arbeit der Ermittler zu verüben. Ihm zufolge stehen die Durchsuchungen im Zusammenhang mit Fällen, die Offiziere des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU oder regierungsnahe Personen betreffen. Weiter erwähnt Klymenko, dass gegen 71 aktuelle oder ehemalige Abgeordnete Verfahren mit Anklagen oder einem formellen Verdacht laufen würden. 32 davon sind in der aktuellen Legislaturperiode Parlamentarier.
Die Ermittler würden aber auch künftig nicht in Ruhe ihrem Job nachgehen können, befürchtet der Sap-Chef: „Ich glaube nicht, dass hier jemand seine Absichten aufgegeben hat.“ Mutmaßlich würden ihre Gegner aber von nun an „subtiler, präziser“ vorgehen. Letztlich gehe es ihnen darum, „uns die Unabhängigkeit zu nehmen – oder zumindest uns der Effektivität zu berauben“. Und es sollten „bestimmte Personen vor rechtlicher Verantwortung“ geschützt werden.
Zur Sprache kommt auch eine mögliche Rolle von Selenskyj. Die Frage, ob das Staatsoberhaupt verantwortlich sei, will Klymenko „nicht beantworten“. Er fügt aber hinzu: „Wir werden sehen, ob jemand die politischen Konsequenzen tragen muss.“ (mg)