EU-Erweiterungsgespräch mit der Ukraine: „EU kann Beitrittsverhandlungen mit Land im Krieg führen“
Europastaatsministerin Anna Lührmann fordert, dass der Europäische Rat den Weg frei macht für Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine. Ungarn solle seinen Widerstand aufgeben.
In einer idealen Welt würden die Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel Donnerstag und Freitag dieser intensiven Woche in Brüssel gleich viermal ein klares Zeichen zugunsten der Ukraine setzen. Und zwar mit einem Ja zum Start von Beitrittsgesprächen, zu den fünf Milliarden Euro für militärische Unterstützung im nächsten Jahr und zu den 50 Milliarden Euro Wirtschaftshilfe sowie zum 12. Sanktionspaket gegen Russland.
Das wäre nicht nur wichtig für die Ukraine, sondern auch gut für das Image der EU als geopolitischer Akteur, sagt ein Diplomat zum Auftakt der intensiven Woche. Doch wenn es um die russische Aggression gegen die Ukraine gehe, habe man ein Problem mit den „ungarischen Hooligans“. Gemeint ist Regierungschef Viktor Orbán, der in Brüssel mit seiner Obstruktion inzwischen selbst Diplomaten zu undiplomatischen Äußerungen bringt. Im Interview erklärt Europastaatsministerin Anna Lührmann die Situation.
Frau Staatsministerin, Ende der Woche stehen beim Europäischen Rat wichtige Entscheidungen zur Zukunft der EU an, es geht um Erweiterung und innere Reformen. Doch Viktor Orbán könnte die Agenda sprengen….
Es wäre nicht das erste Mal, dass Viktor Orbán versucht, mit der ganzen Gemeinschaft Spielchen für seine eigenen Zwecke zu spielen. Sein Verhalten ist höchst unsolidarisch. Die anderen 26 Mitgliedstaaten sind sich einig, dass Russlands Angriff auf Europas Friedensordnung eine große Bedrohung darstellt. Wir wissen, dass wir Putin am besten entgegentreten, indem wir gemeinsam ein klares Stoppschild aufstellen und die Ukraine entschlossen unterstützen, finanziell, militärisch und humanitär. Es ist sehr wichtig, dass wir der Ukraine eine klare EU-Perspektive bieten und diese mit Taten unterfüttern. Einzig Orbán unterminiert diesen Kurs. Das führt zu Verärgerung und Unverständnis in allen 26 Hauptstädten. So arbeiten wir in der EU nicht zusammen. In der EU als Wertegemeinschaft sind uns Konsens und Zusammenarbeit sehr wichtig.
Die EU hat sich zur Erweiterung bekannt, aber auch die Bedeutung von inneren Reformen hervorgehoben. Geht beides Hand in Hand, oder soll es erst die Reformen und dann die Erweiterung geben?
Die Aufnahme weiterer Mitglieder und die Reform der EU gehen parallel. Das haben die Staats- und Regierungschefs beim informellen Rat in Granada explizit erklärt. Dieses Prinzip soll beim kommenden Europäischen Rat noch mal festgehalten werden. Es ist wichtig, dass auch wir als EU selbst reformfähig bleiben, wie wir auch von den Kandidatenländern viele Reformen erwartet. Das haben wir in den sogenannten Kopenhagener Kriterien festgehalten. Wir, die EU, müssen unsere Aufnahmebereitschaft garantieren.

Was heißt das?
Unser Ziel ist eine größere und stärkere Union. Dafür müssen wir unsere Handlungsfähigkeit erhalten und verbessern. Es geht darum, dass der Rat schneller Entscheidungen trifft. Wir wollen, dass einzelne Länder nicht mehr die Gemeinschaft blockieren können. Wir wollen, dass es weniger Vetos gibt. Wir müssen aber auch über den Schutz der europäischen Werte reden. Wie können wir unsere Rechtsstaatsinstrumente besser, ja wirksamer machen? Darüber hinaus geht es aber auch um institutionelle Reformen. Etwa um die Frage: Wie groß soll in Zukunft das Europaparlament oder die Europäische Kommission werden?
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Dieser Artikel liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Europe.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn Europe.Table am 11. Dezember 2023.
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„Handlungsfähiger“ lautet die Losung
Sie sprechen von mehr Handlungsfähigkeit, früher wurde von Vertiefung gesprochen. Vertiefung klingt weiter Richtung Föderalstaat. Handlungsfähigkeit stärken klingt wie „weiter machen wie bisher“, nur „besser“.
Vertiefung ist ein Begriff, der heute in der Reformdebatte nicht mehr so oft benutzt wird. Er stammt aus der Zeit des letzten Konvents vor fast 20 Jahren, für den ich im Bundestag Berichterstatterin war. Da ging es ums Vertiefen. Heute konzentrieren wir uns statt auf die Debatte um ein „mehr“ oder „weniger“, auf das Ziel einer stärkeren, einer handlungsfähigeren EU.
Und was heißt handlungsfähiger?
Wir sollten zunächst unsere Ziele als Europäische Union diskutieren: Wir wollen ein geostrategischer Akteur sein, der als schlagkräftig wahrgenommen wird und gegenüber China und Russland selbstbewusst auftreten kann. Wir wollen souverän agieren, auch wenn es einmal einen Regierungswechsel in den USA gibt. Wir wollen Klimaneutralität weltweit zum Durchbruch verhelfen. Und dann müssen wir uns die Frage stellen, welche Instrumente wir dafür brauchen. Mit diesem Ansatz kommen wir im EU-Kreis weiter, als wenn wir die Schlagworte der letzten 20 Jahre wiederholen.
In welchen Bereichen setzt sich Deutschland für Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit ein?
Wir streben die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, in der Steuerpolitik sowie bei technischen Fragen der Erweiterungspolitik an. Wir haben uns dazu früh mit Frankreich abgestimmt. Seitdem setzen wir die Arbeit in einer Freundesgruppe der Außenminister fort. Inzwischen sind wir elf Mitgliedstaaten, die drei konkrete Bereiche identifiziert haben, die wir aus der Einstimmigkeit herausholen wollen.
Abschied von der Einstimmigkeit
Wie soll der Abschied von der Einstimmigkeit konkret laufen?
Für mich ist wichtig, dass wir die Flexibilität des Lissabonner Vertrags nutzen. Der Lissabonner Vertrag erlaubt, einzelne Politikbereiche ohne Vertragsänderungen in die Entscheidung mit qualifizierten Mehrheiten überführen zu können. Das Stichwort ist die sogenannte Passerelle-Klausel.
Sie wollen Mehrheitsentscheidungen in der kompletten Außenpolitik?
Das ist unsere Vision. Natürlich denken wir dabei auch über Mechanismen nach, die ein Sicherheitsnetz spannen: Wenn eine Frage aus dem nationalen Kerninteresse eines Mitgliedstaats stark beeinträchtigt wäre, dann müsste es möglich sein, dass wir uns auf höchster Ebene damit befassen.
Wie geht es weiter?
Ich sehe ein positives Momentum. Viele Mitgliedstaaten sind derzeit zwar nicht offen für Vertragsänderungen. Aber sie stellen heraus, dass der Lissabonner Vertrag tauglich für die Erweiterung ist. Ich kriege das immer wieder zu hören: „The Lisbon treaty is enlargement proof.“ Dann lasst uns die bestehenden Möglichkeiten nutzen! Unser Ziel ist, dass die belgische Ratspräsidentschaft ab Januar einen Reformrahmen erarbeitet. Darin sollen konkrete Ziele definiert werden sowie ein Zeitplan für die Umsetzung. Am Ende brauchen wir für die angestrebten Änderungen Einstimmigkeit im Europäischen Rat.
Für Konvent fehlen Mehrheiten
Das Parlament fordert einen Konvent. Das steht auch im Koalitionsvertrag. Dennoch hört man wenig aus Deutschland dazu, warum?
Die Koalition steht hinter ihrem Vertrag. Ein Konvent ist und bleibt ein gutes Ziel. Ich spreche den Konvent immer wieder an, sehe aber wenig Begeisterung bei meinen Kollegen im Rat. Deshalb arbeiten wir daran, EU Reformen auch auf anderem Wege zu erreichen.
Die Ukraine ist bereits Beitrittskandidat. Die Bundesregierung und andere wollen, dass die Verhandlungen beginnen. Orbán ist dagegen…
26 EU-Mitgliedstaaten sind dafür, den nächsten Schritt auf dem Weg der Ukraine in die EU zu gehen und die Beitrittsgespräche zu eröffnen. Die Ukraine zeigt enormen Reformwillen. Daher erwarte ich, dass der Europäische Rat diese Entscheidung diese Woche trifft.
„26 Länder sind bereit“
Wäre es ein Kompromiss, den Beschluss auf den März-Rat zu verschieben?
Nein, das sehe ich nicht. Das wäre das falsche Signal an die Ukrainerinnen und Ukrainer. 26 Mitgliedstaaten sind bereit. Die Kommission hat festgestellt, dass die Ukraine die vereinbarten Kriterien erfüllt hat. Die Kommission schlägt vor, dass der Beschluss jetzt getroffen wird und die Verhandlungen im März beginnen. Das ist der richtige Weg.
Kann man Beitrittsverhandlungen führen mit einem Land, das im Krieg steht und eine ungeklärte Landesgrenze hat?
Wir sind ja schon dabei, mit der Ukraine sehr konkret den Beitritt vorzubereiten. Mitten in Russlands brutalem Angriffskrieg unternimmt die Ukraine beeindruckende Reformanstrengungen. Nehmen Sie das Medienrecht und die Reformen der Justiz. Die Perspektive auf den Beitritt ist lebenswichtig für die Menschen in der Ukraine. Sie gibt ihnen die Hoffnung auf ein Leben in der EU, ein Leben in Frieden, Freiheit und Sicherheit. Die Ukraine ist zutiefst entschlossen, die ihr abverlangten Reformen umzusetzen. Ja, wir sollten mit der Ukraine die Beitrittsverhandlungen führen.