Überraschender Vorstoß - Militär-Experte: Mit neuer Offensive in Kursk verfolgt die Ukraine vor allem drei Ziele
Das Wort Kursk ist mittlerweile in der Ukraine zu einer Art Synonym für Hoffnung geworden. Hoffnung darauf, dass doch noch nichts verloren ist und dass man auf dem Schlachtfeld das Blatt auch in äußerst schwierigen Situationen wieder wenden kann.
Bereits Anfang August 2024 hatte die ukrainische Armee im russischen Grenzgebiet Kursk völlig überraschend eine Offensive gestartet. Damals wie heute standen Kiews Truppen zeitgleich im Osten ihres Landes massiv unter Druck.
"Mit einem Teil des gegnerischen Territoriums in der Tasche verhandelt es sich viel leichter als ohne" Militäranalyst Mick Ryan
Zwar eroberten die Russen in den vergangenen Wochen immer mehr Ortschaften in Kursk wieder zurück – doch nun sind die Ukrainer dort am vergangenen Wochenende ein zweites Mal zum Angriff übergegangenen.
Das genaue Ausmaß dieser neuen Kursk-Offensive ist bislang noch unklar. Doch sowohl ukrainische Quellen als auch russische Militärblogger bestätigen seit Sonntag Angriffe an mehreren Abschnitten der Kursker Front.
Auch das US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) bescheinigte den Ukrainern zumindest lokal begrenzte Erfolge. In einem Bericht zum Wochenbeginn hieß es dort: „Die ukrainischen Streitkräfte haben ihre Offensivoperationen in mindestens drei Gebieten innerhalb des ukrainischen Frontvorsprungs wieder aufgenommen und am 5. Januar taktische Vorstöße gemacht.“
In mehreren Wellen hätten die Ukrainer unter anderem östlich und nordöstlich der Stadt Sudscha angegriffen sowie südöstlich von Korenowo, schreibt das ISW unter Berufung auf die russischen Beobachter.
„Besonders interessant sind aber die operativen und strategischen Ziele“
Doch was genau bezweckt Kiew mit diesem neuerlichen Vorstoß, der immerhin auch große Risiken birgt? Wie hoch sind die Erfolgsaussichten – und warum findet er ausgerechnet jetzt statt?
„Auf der grundlegendsten taktischen Ebene dürfte es bei dieser Operation darum gehen, Territorium zu gewinnen sowie russische Boden- und Luftstreitkräfte zu vernichten“, sagt Militäranalyst Mick Ryan dem Tagesspiegel. „Besonders interessant sind aber die operativen und strategischen Ziele.“
Auf operativer Ebene sei da einmal nach wie vor die Hoffnung, die Russen durch Angriffe in Kursk von der Front im Donbass wegzulocken, meint der australische Ex-General, der heute in Sydney im Bereich Militärstudien forscht. „Möglich ist das zwar, angesichts von Russlands personeller Überlegenheit allerdings unwahrscheinlich“, gibt er zu bedenken.
1. Ziel der Ukrainer laut Ryan: Russen dazu zwingen, Truppenaufstellungen zu überdenken
„Ein weiteres operatives Ziel, das mit größerer Wahrscheinlichkeit erreicht werden kann, besteht darin, die Russen zu zwingen, ihre Truppenaufstellungen an anderen Frontabschnitten zu überdenken“, meint Ryan. „Die Russen werden darauf reagieren müssen.“ Die Ukrainer wiederum würden nun genau beobachten, wie und wo die russischen Soldaten sich bewegen, um mögliche Chancen zu nutzen.
Die strategischen, also übergeordneten Ziele der neuen Kursk-Operation werden sich erst nach einiger Zeit zeigen, führt der Experte aus. Zum jetzigen Zeitpunkt ließen sich nur Prognosen abgeben.
2. Ziel: Darstellung des Krieges in eine für Ukraine positivere Richtung zu lenken
Möglich sei etwa, dass es sich bei der Offensive um einen Versuch der Ukrainer handele, nach Monaten in der Defensive nun Russlands Momentum an der Front zu zerstören. „Selbst Russland kann nicht ewig in der Offensive bleiben.“
Ryan fügt hinzu: „Ein zweites strategisches Ziel könnte darin bestehen, die Darstellung des Krieges in eine für die Ukraine positivere Richtung zu lenken und der russischen Fehlinformation über den ,unvermeidlichen Sieg’ in der Ukraine entgegenzuwirken.“
Natürlich sei eine erneute Offensive in Kursk auch mit großen Risiken verbunden, betont Ryan. Immerhin hat sich die Lage in der Ostukraine aus Kiewer Sicht seit dem Sommer kein bisschen entspannt – im Gegenteil.
Erst am Montag meldete das Verteidigungsministerium in Moskau die Eroberung der Kleinstadt Kurachowe, die strategisch wichtige Stadt Pokrowsk können die Ukrainer bereits seit Wochen nur noch mit Mühe halten.
3. Ziel: Moral der ukrainischen Bevölkerung zu stärken
Vor diesem Hintergrund sei es aus Sicht der ukrainischen Führung aber eben auch besonders wichtig, die eigenen Leute mit guten Nachrichten zu versorgen, meint der Experte. „Ein drittes strategisches Ziel der Kursk-Offensive könnte deshalb darin bestehen, die Moral der ukrainischen Bevölkerung zu stärken“, glaubt er. „Das könnte der ukrainischen Regierung das Risiko wert sein.“
Besetztes Kursk als Verhandlungsmasse
Nicht zuletzt gehe es aber wohl auch darum, vor dem Amtsantritt von Donald Trump in den USA am 20. Januar noch so viel russisches Gebiet wie möglich zu besetzen, damit man dieses dann bei möglichen Verhandlungen als Faustpfand habe.
„Mit einem Teil des gegnerischen Territoriums in der Tasche verhandelt es sich viel leichter als ohne“, sagt Ryan – macht aber auch klar, dass die Ukrainer weiterhin deutlich weniger in die Waagschale werfen können als die russischen Angreifer: „Russland besetzt aktuell 18 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets; der ukrainische Anteil an russischem Gebiet ist viel, viel kleiner.“
Es bestehe durchaus die Möglichkeit, dass es der ukrainischen Armee in den kommenden Tagen und Wochen gelinge, die Dynamik in Kursk zu ihren Gunsten zu drehen und wieder einige Orte zu besetzen, meint er.
Einen vergleichbaren Erfolg wie im Sommer sieht der Experte – Stand jetzt – aber noch nicht: „Dass die Ukraine all das Gebiet, was sie im August vergangenen Jahres erobert und in der Zwischenzeit wieder verloren hat, nun noch einmal einnimmt, ist unwahrscheinlich.“
Über den Experten:
Mick Ryan ist australischer Ex-General und Senior Fellow für Militärstudien am Lowy Institute in Sydney.
Von Hannah Wagner
Das Original zu diesem Beitrag "„Russland kann nicht ewig in der Offensive bleiben“: Wie erfolgreich ist der neue ukrainische Vorstoß in Kursk?" stammt von Tagesspiegel.