Was ist eigentlich das Gegenteil von sozialer Ungerechtigkeit? Der Blick in die Geschichte legt eine Antwort nahe. Sie lautet: Weniger für die meisten. Jetzt dürften Sie um die acht Sekunden gelesen haben. Wenn sich aber Philosophen über diese Frage unterhalten, dauert das schon mal eine Dreiviertelstunde. Schauen wir uns an, ob der Erkenntnisgewinn dreihundertfach höher ist bei Richard David Precht.
Ihm hat das ZDF 44 Minuten Sendezeit geschenkt. "Soziale Ungleichheit – Sprengkraft für die Demokratie?", lautet sein Thema. Als Gesprächspartnerin setzt sich der 60-Jährige ("Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?") die Politologin Martyna Linertas ("Unverdiente Ungleichheit") ins düster ausgeleuchtete Studio. Die 35-Jährige hat ein paar Jahre im Bundestagsbüro von Annalena Baerbock gearbeitet. Die Düsternis und die Grüne: Beides gibt den Grundton des Gesprächs vor.
Talkrunde mit Precht: Zu Anfang muss die Politologin schnaufen
"In kaum einem anderen westlichen Industrieland ist das Vermögen so ungleich verteilt wie in Deutschland", beginnt Precht seine Sendung. Dann leitet er über zum sogenannten "Herbst der Reformen", den die Bundesregierung angekündigt hat. Da kann Martyna Linertas erst einmal gar nicht antworten. Stattdessen schnauft sie tief auf. Als sie wieder zu Atem kommt, spricht sie von ihrer Sorge, "dass wir eher einen Winter der sozialen Kälte bekommen werden". Mit ihrem Schnaufen und ihrem Satz ist die Position klar. Welche Argumente findet die Politologin jenseits der Theatralik?
Deutschland liegt auf dem Niveau von Mexiko
In ihrem Weltbild werden die Reichen geschont. Ganz anders die Armen. "Man schaut, wie man bei Menschen, die ohnehin bereits in einem Problem sind, noch ein bisschen was rausholen kann durch weitere Sanktionen", verkündet sie. Immerhin verteidigt sie die Besteuerung der Einkommen – also zumindest fast.
Bei ihr klingt das so: Da gibt es „gar keine ganz so krasse Ungleichheit“. Da liege Deutschland durchaus im Mittelfeld. Ganz anders bei den Vermögen. Da sei es, und das Wort hören wir gleich zum zweiten Mal, "krass". Da liege Deutschland auf einem Niveau mit Mexiko.
Der Ausflug nach Nordamerika liegt für die 35-Jährige wahrscheinlich näher als für die meisten Zuschauer. Ein Onkel von ihr war einmal stellvertretender Finanzminister Mexikos. "Die Schere zwischen Arm und Überreich ist wirklich grotesk", befindet sie und ist damit wieder in Deutschland angekommen und in einer Argumentation, die sie auf ein Rechenbeispiel stützt: Stellen Sie sich vor, ein Zentimeter entspricht 50.000 Euro. 99 Prozent der Deutschen bringen ihr Vermögen auf einem Blatt Papier unter. Das eine Prozent der reichsten Deutschen erreicht dagegen eine Flughöhe von mehr als zehn Kilometern. "Und über die sprechen wir gar nicht!"
Linertas im ZDF: „Privateigentum ist legitimationswürdig!“
So also sieht sie im ZDF das Problem. Und die Lösung: Steuern. "Muss Überreichtum legitimiert werden?", bringt sich Gastgeber Precht dann doch ins Gespräch ein. "Wenn man sich anguckt, was sehr viel Vermögen für die Demokratie – und das Klima!" – bedeutet, dann ja. Dann ist Privateigentum legitimationswürdig.
An dem Punkt geht es der Politologin dann schon nicht mehr nur um den "Überreichtum", sondern ums Eigentum allgemein. "Hierzulande werden Menschen, die besonders viel und hart arbeiten, besonders hoch besteuert – Deutschland ist ja ein Hochsteuerland für Einkommen", hören wir. Da kann Linertas nur hoffen, dass sich ihr Satz ein paar Minuten zuvor, dass Deutschland bei der Besteuerung der Einkommen durchaus mit Mittelfeld liege, schon lange versendet hat.
Eine echte Leistungsgesellschaft? "Nö!"
Da versucht es der Philosoph mit dem Grundsätzlichen – und beschreibt zwei Gerechtigkeitsmodelle: „das sozialistische, wir brauchen einen höchstmöglichen Grad an Gleichheit, und das liberale, jeder muss die Chance haben, zu seinem zu kommen – und das kann dann auch unendlich groß sein“. Für die Politologin hat sich dieses zentrale Thema der Leistungsgesellschaft allerdings erledigt. Für sie ist nicht mehr "jeder seines Glückes Schmied“. Den Gedanken greift Precht gerne auf. „Wir starten ja nicht alle auf einer Linie", stimmt er zu, um die Frage zu stellen: "Wäre es wünschenswert, in einer – echten! - Leistungsgesellschaft zu leben?" Da lacht seine Gesprächspartnerin auf und sagt nur: "Nö!“
Gute Nacht, Deutschland!
Und die Lösungen? Linertas hat im Grunde nur eine. Und die ist schlicht. Sie heißt: Erbschaftsteuer. Ab einem Vermögen von 100.000 Euro plädiert die Politologin für 90 Prozent Steuern: "Erbschaften sollten behandelt werden wie unverdientes Einkommen." Da staunt auch Gastgeber Precht über den sozialistischen Lösungsansatz. Warum das ZDF diese 44 Minuten Sendezeit verschenkt? Klar wird das nicht. Aber da ist es ja auch schon weit nach Mitternacht. Sagen wir: gute Nacht, Deutschland!