Raphael Pichon denkt Mozarts unvollendete „Zaide“ bei den Salzburger Festspielen weiter. Ein sehr heutiger Abend, eine Meditation über Hass und Toleranz in einer überwältigenden musikalischen Ausformung.
Was bleibt, ist ein kleines Licht. Im gedämpften Orange erglüht eine Arkade der Felsenreitschule, dazu hebt noch einmal das Adagio für Glasharmonika an, feine, zerbrechliche Klänge, sie stammen nicht von dieser Welt. Und alle Last ruht auf Persada, die in den Hintergrund schreitet und es besser machen soll. Besser als die Generation vor ihr, die unter Hass, Neid und Rache nicht nur litt, sondern all dies auch selbst verursachte.
Wir wissen nicht, wie die Sache ausgeht – aber wir haben es in der Hand. Das sagt eine Oper bei den Salzburger Festspielen, die es gar nicht gibt. Wolfgang Amadeus Mozart kam mit seinem Singspiel „Zaide“ zu keinem Ende. Zwei Jahre vor der „Entführung aus dem Serail“ schuf er ein ähnliches Stück: Sultan Soliman hat sich in seine christliche Gefangene Zaide verliebt, die aber mit ihrem Mithäftling Gomatz glücklich werden will. Die Flucht scheitert, Soliman wütet. Ob er verzeiht wie Bassa Selim in der „Entführung“ oder straft, bleibt unklar, auch, wie deutlich Mozart die Ideale der Aufklärung hier formulieren wollte – die Komposition bricht ab.
„Semikonzertant“ als charmante Lüge
Raphaël Pichon, der konzeptionell Klügste der Dirigentenzunft, füllt dieses Fragment für Salzburg nicht auf, er denkt es weiter. Mit Teilen aus anderen Mozart-Werken, aus der Kantate „Davide penitente“ oder „Thamos“, auch mit (auf Deutsch übersetzten) Texten des kanadisch-libanesischen Schriftstellers Wajdi Mouawad. Ein Opern-Pasticcio mit dem Titel „Zaide oder Der Weg des Lichts“, das die Festspiele als „semikonzertant“ ankündigten, es ist eine charmante Lüge. Mehr noch: Es beschämt in seiner Bescheidenheit, Intensität und Wahrhaftigkeit sonstige Regie-Anstrengungen (nicht nur) in Salzburg, es ist der Höhepunkt des Festivalsommers.
Pichon und sein Team erzählen alles als Rückblende. Die hinzuerfundene Figur Persada, in letzter Sekunde gerettete Tochter von Zaide und Gomatz, kehrt zurück. Der alte Gefängniswärter Allazim ist noch da, er berichtet vom grausamen Geschehen – Johannes Martin Kränzle ist dieser allwissende Spielmacher. Das Setting, links das Orchester auf der Bühne, der agierende Chor rechts, kaum Requisiten, eine subtile Beleuchtungsregie, der stumme Zauber der Felsenreitschule als Riesengefängnis, all das ist so karg wie wirkungsvoll.
Zwischen Ritual, psychologisch angedeuteter Figurenzeichnung und oratorischer Strenge bewegt sich das, was Bertrand Couderc (Bühne, Licht, Kostüme) und Evelin Facchini (Choreografie) zusammen mit Pichon erdachten. Vor allem aber vertraut man auf das Wichtigste überhaupt: auf Mozarts Musik, die ohnehin alles sagt und weiß, und auf die starke Präsenz der fünf Singdarsteller. Bewegung und Gesang verschmelzen, sogar pathetische Gesten oder Aufenthalte an der Rampe sind vollkommen selbstverständliche, aus dem Geist der Partituren entwickelte Momente. Der Chor formiert sich immer wieder neu, einmal zur Flucht der Sklaven wie ein Schiffsbug. Alle sind sie Solimans Gefangene. Und wenn sie die große Fuge aus „Davide penitente“ oder „Misericordias Domini“ anstimmen, werden sie zum kommentierenden Kollektiv einer antiken Tragödie.
Sabine Devieilhe beschert Unvergessliches
Ohnehin bewegen sich Chor und Orchester von Pygmalion, trainiert und angestachelt von Raphaël Pichon, in der Champions League, hier übertreffen sie sich noch einmal selbst. Nur noch Staunen über die Flexibilität, die Plastizität und Energie des Klangs, die Virtuosität auch im Leisen, die Präzision (über große Bühnenabstände) sowie über die Bedingungslosigkeit, mit der sich alle in die Stücke werfen. Sabine Devieilhe (Zaide) gestaltet mit höchster Vokalkontrolle und zugleich wie aus dem Augenblick heraus, atemberaubende, unvergessliche Momente sind das, auf eine ganz eigene Art wird sie zur Nachfolgerin von Lucia Popp und Barbara Bonney.
Lea Desandre (Persada) ist mit gehaltreichem, sinnlichem Mezzo die ideale Ergänzung. Julian Prégardien bringt als Gomatz Schubert’schen Melancholieflor in Mozarts Musik, Daniel Behle gibt einen Soliman mit Heldencharme, unter der kühlen Oberfläche brodelt das Vokalmagma. Johannes Martin Kränzle, wie berichtet zum zweiten Mal von einer Leukämie-Erkrankung genesen, ist mit zwei kurzen Arien dabei und mit seiner darstellerischen Kraft Epizentrum des Abends (hier ein Interview).
„Wir wissen nicht, wann wir uns retten; und wir wissen nicht, wer uns rettet“, heißt es einmal im Sprechtext. „Zaide oder Der Weg des Lichts“ will nicht erläutern, demonstrieren, sondern anstoßen. Weite Zuhör- und Nachdenkräume werden geöffnet. In seiner Meditation über die Freiheit wird der pausenlose 110-Minüter zum stillen Vorläufer von Beethovens „Fidelio“. Es ist ein sehr heutiger, nie modernistischer Abend, der viel mitschwingen lässt. Der Clash von Kulturen und Religionen, was von uns bleiben soll, was wir nachfolgenden Generationen überlassen, wie wir umgehen mit den Tunnelblicken des Egoismus. Die Aufklärung ist längst nicht abgeschlossen, im Gegenteil, sagt diese Aufführung. Das Festspiel-Publikum ist ergriffen und versteht. Standing Ovations.
Aufzeichnung im Internet ab 24. August auf Arte Concert.