Nato-Ostflanke: Warum Europa künftig eher auf eigene Waffen setzen muss

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Unter dem Begriff „Dragoon Ride“ lief 2015 eine Militärübung der US-Armee und der Nato, bei der Ausrüstung und Personal aus dem Baltikum über Polen und die Tschechische Republik nach Deutschland transportiert wurden – mit dabei auch US-Soldaten mit ihren Stryker-Dragoon-Schützenpanzern, die in Lettland bei Jelgavkrasti bewundert wurden. Jetzt könnten sie wieder in Bewegung geraten: Auf ihrem Rückzug aus Europa (Archivfoto). © IMAGO/Dreamstime/Shooterma

Zum Überleben sollten Sie sich allein auf sich selbst verlassen, wird ihnen geraten: Die Balten bemühen sich, dass ihre Ängste ernst genommen werden.

Brüssel – „Aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Ukraine versetzt sich jedes einzelne Land an der Ostflanke in die Lage der Ukraine und stellt die Frage: Wäre es anders, wenn wir dort wären, wo die Ukraine heute ist?“, sagt Gabrielius Landsbergis gegenüber Newsweek. Aktuell thematisiert das Magazin die Frage, ob die Nato-Partner der Ostflanke immer noch US-Waffen wollen. Der ehemalige Außenminister Litauens spricht sich aus für eine möglichst große Autonomie gegenüber Wladimir Putins Invasionstruppen – beispielsweise in der Luft.

„Die Umsetzung von Sky Shield wäre ein wichtiger Bestandteil der europäischen Bemühungen, die Sicherheit der Ukraine effektiv und effizient zu gewährleisten“, sagt Landsbergis. Er gehört zu den Befürwortern eines Schutzschirms im ukrainischen Luftraum – einer „Luftpolizei“, wie sie der Guardian kürzlich ausgemalt hat: Eine „internationale Luftwaffe“ soll helfen; mit bis zu 120 europäischen Maschinen. Die regionale Besonderheit der drei baltischen Staaten bestehe darin, dass sie im Kriegsfall als ein gemeinsames Operationsgebiet agieren müssen, hat Arnis Cimermanis jüngst klargestellt.

Nato-Angst: US-Verteidigungsministerium überlegt, 10.000 US-Kräfte aus Osteuropa abzuziehen

Cimermanis erörtert das Thema für den Thinktank Foreign Policy Research Institute (FPRI) im Zusammenhang mit der geplanten Reduzierung von US-Truppen in Europa. Wie der US-Sender NBC kürzlich berichtet hatte, würde im US-Verteidigungsministerium überlegt, 10.000 US-Kräfte aus Osteuropa abzuziehen. Laut den NBC-Autoren Gordon Lubold, Dan De Luce und Courtney Kube führe das sogar unter US-Offiziellen zu der Befürchtung, dieses Signal könne Wladimir Putins Expansions-Gelüste schüren. Allerdings besteht in diesem Teilabzug noch keine substanzielle Schwächung des US-Kontingent.

„Der Abbau des sogenannten ,nuklearen Schutzschirms‘ der USA würde eine erhebliche Lücke im kollektiven europäischen Atomarsenal hinterlassen, die Russland leicht ausnutzen könnte.“

In Europa stünden weiterhin die bereits vor dem Krieg hier stationierten 80.000 Kräfte. Wie der Tagesspiegel schreibt, gehören die 10.000 zur Debatte stehenden Kräfte zum Extra-Kontingent von 20.000, um die die US-Präsenz unter Präsident Joe Biden in Europa nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs aufgestockt worden war.

„Tiefschlagskapazität und Luftabwehr sind Schlüsselressourcen, die den Europäern fehlen, und die Ukraine hat gezeigt, dass Luftverteidigung für jede Operation von größter Bedeutung ist. Die Stationierung von Luftabwehrsystemen wird russische Angriffe auf kritische Infrastruktur verhindern und die Vorherrschaft in der Ostsee ermöglichen“, schreibt Cimermanis. Der Analyst macht die Gleichung auf, dass sich Luftabwehrsysteme und Tiefschlagskapazitäten ergänzen müssen. Je weniger Luftabwehr, desto mehr Tiefschlagkapazitäten, um Luftangriffe im Keim zu ersticken. Der deutsche Taurus-Marschflugkörper auf der Angriffs-Seite bildet da nur ein Puzzleteil. Die bestehenden Patriot-Batterien in der Defensive das andere.

Nato alarmiert: Bodengestützte Luftverteidigung und Raketenabwehr in Europa derzeit „sehr mangelhaft“

Die bodengestützte Luftverteidigung und Raketenabwehr in Europa sei derzeit „sehr mangelhaft“ analysiert Lydia Wachs von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Mit der European Sky Shield Initiative (ESSI) wollen Teile der Nato ihren Luftraum gegen Bedrohungen abschotten. Polen beispielsweise hat sich sehr spät entschlossen, die Balten waren schnell dabei. Die ESSI geht zurück auf die Initiative Deutschlands. Grundsätzlich zielt ESSI darauf ab, das deutsche System IRIS-T SLM (Infra Red Imaging System Tail Surface Launched Medium Range) weiterzuentwickeln. „Weitere Schritte werden dann folgen. Da zeitnah erste Ergebnisse erzielt werden sollen, liegt der Fokus zunächst auf marktverfügbaren oder bereits entwickelten Systemen“, schreibt das deutsche Verteidigungsministerium; also bleibe beispielsweise das Patriot-System noch die erste Wahl für aktuelle Käufe.

Eine „,one size fits all‘-Lösung zur Abwehr von Russlands diversen Langstreckenwaffen“ sei illusorisch, schreibt Lydia Wachs vom SWP. Sie fordert eine „integrierte Luftverteidigungs­architektur“, also eine strategisch ausgearbeitete Verknüpfung verschiedener Wirkmittel, die Sicherheit schafft über Land, über der See, in der Luft sowie im Cyber- und Weltraum. Auch Landisbergis hat im Gespräch mit Zeit Online einen unterschiedlichen Leidensdruck durch den Ukraine-Krieg der in einer Allianz zusammengeschlossenen Länder gespürt: „Ein Teil Europas lebt in einer anderen Wirklichkeit. Für ihn ist das ein Regionalkonflikt, weit weg von ihnen. Und dann gibt es Länder wie Litauen und Polen, für die der Krieg vor der Tür stattfindet und die eine sofortige Reaktion verlangen“, wie er sagt.

Ukraine warnt: „Die Russen werden das Baltikum in sieben Tagen einnehmen“

Das seien auch Frontstaaten, sagt Oleksandr Merezhko gegenüber Newsweek. Sorgen seien berechtigt. Ihm zufolge, sei die wichtigste Lektion, die die Ostflanke von der Ukraine lernen sollte: „Wenn Sie überleben wollen, sollten Sie sich nur auf sich selbst verlassen“, so der Vorsitzende des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des ukrainischen Parlaments „Die Russen werden das Baltikum in sieben Tagen einnehmen“, sagte Vadym Skibitsky in einem Gespräch mit dem britischen Economist. „Die Nato hat zehn Tage Reaktionszeit“, so der stellvertretende Leiter des ukrainischen Militärgeheimdienstes weiter. Vor rund zehn Jahren hatte der US-Thinktank RAND Szenarien durchgespielt: Denen zufolge könnte Russland die Hauptstädte Tallinn oder Riga in 60 Stunden eingenommen haben.

Seit 2017 sind multinationale Bataillonsgefechtsverbände der Nato im Baltikum permanent und im Rotationsverfahren stationiert. In Litauen sollen die Deutschen bis 2027 rund 5000 Kräfte dauerhaft präsent halten. 3500 Kräfte, größtenteils aus Kanada, stehen in Lettland. In Estland sind aktuell etwas mehr als 2000 Nato-Kräfte stationiert, den Großteil bilden britische Truppen – die wollen ihr Engagement Mitte 2025 sogar noch ausbauen, wie die britische Regierung Ende 2024 mit Estland vereinbart hat. Damit verpflichtet sich das Vereinigte Königreich im Krisenfall das 4th Light Brigade Combat Team, bekannt als die „Black Rats“ unverzüglich nach Estland zu verlegen – innerhalb von zehn Tagen soll das Kontingent der üblichen Größe einer solchen Einheit von 3000 bis 5000 Kräften an der Front stehen.

Insofern scheint möglicherweise unwesentlich zu sein, ob russische Invasionstruppen nach fünf oder sieben Tagen die Kontrolle über baltische Städte übernommen hätten. Denn ob mit den nachstoßenden multinationalen Verbänden auch US-amerikanische Truppen eingesetzt würden, bleibt fraglich, seit US-Präsident Donald Trump das Engagement seines Landes von dem der europäischen Bündnispartner abhängig macht. Nach der Zusammenstellung des Thinktanks Council von Foreign Relations ist die US-Präsenz im Baltikum überschaubar: Trotz vieler Rotationen sind dort dauerhaft lediglich 700 Kräfte in Estland stationiert und in Litauen 1000.

Ohne nukleare Teilhabe: F-35-Kampfjet wäre möglicherweise obsolet

Allerdings führen sie den multinationalen Verband in Polen an – mit 14.000 Kräften. Wie Molly CarloughBenjamin Harris und Abi McGowan zusammengetragen haben, verwalten die US-Streitkräfte ihr Atomwaffenarsenal in Europa. Zwar versteht die Nato unter atomarer Teilhabe, dass die USA keinesfalls allein über den Einsatz der Waffen im Bündnisfall entscheiden würden, dass aber ohne die USA auch keine Entscheidung getroffen werden könnte; darüber hinaus stellen die Länder die technischen Voraussetzungen zum Nuklearwaffen-Einsatz. Dazu benötigte Deutschland beispielsweise den F-35-Kampfjet. Ohne diese Aufgabe wäre er möglicherweise obsolet.

Die Atomwaffen gehören elementar zur Nato-Abschreckungsstrategie; im Rahmen dieser Abkommen hätten die Vereinigten Staaten ursprünglich fast 7.000 Atomwaffen in Europa gelagert. Dieser Bestand ist deutlich geschrumpft auf vermutlich rund 100 B16-Freifallbomben, wie die Federation of American Scientists schätzt – diese kleineren taktischen Atomwaffen sind wahrscheinlich stationiert in Belgien, Italien, den Niederlanden, Deutschland und der Türkei. Ohne sie könnte die Nato-Drohgebärde unglaubwürdig wirken.

Laut den CFR-Analysten sei offen, wie sich eine Truppenreduzierung auf die Zahl oder Verteilung der US-Atomwaffen auf Europa auswirken würde; wie sie in ihrer Analyse deutlichen machen, ist eines aber klar: „Der Abbau des sogenannten ,nuklearen Schutzschirms‘ der USA würde eine erhebliche Lücke im kollektiven europäischen Atomarsenal hinterlassen, die Russland leicht ausnutzen könnte.“

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