Sie gelten als die Regenwälder der Ozeane – doch viele Warmwasser-Korallen könnten bald unwiederbringlich verschwinden. Der „Global Tipping Points Report 2025“ zeigt: Große Teile der Riffe haben ihren kritischen Kipppunkt bereits erreicht. Schon bei einer globalen Erwärmung von 1,2 bis 1,4 Grad droht massives Absterben – und aktuell liegt die Erde bei 1,3 bis 1,4 Grad. Der erste globale Klima-Kipppunkt ist damit Realität.
„Leider sind wir uns jetzt fast sicher, dass wir einen der Kipppunkte für Warmwasser- oder tropische Korallenriffe überschritten haben“, sagte Tim Lenton, Klimaforscher an der Universität Exeter und leitender Autor der am Montag veröffentlichten Studie der Nachrichtenagentur AFP.
Durch die Erderwärmung von durchschnittlich 1,4 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter „erleiden diese Riffe ein beispielloses Absterben, das die Lebensgrundlage von Hunderten Millionen Menschen“ sowie das Überleben von einer Million Meeresarten beeinträchtigt, heißt es in der Studie, an der rund 160 Wissenschaftler und Institutionen beteiligt waren.
Experten beunruhigt: Korallen-Kipppunkt erreicht
Klimawissenschaftler und Experten schlagen bereits Alarm. „Unsere Erde verliert ihr Gleichgewicht – und wir es mit ihr. Einige Kipppunkte stehen kurz bevor oder sind im Fall der Korallenriffe womöglich schon erreicht. Damit stehen unsere Lebensgrundlagen auf dem Spiel, und zwar hier und heute“, warnt Viviane Raddatz, die Klimachefin beim WWF Deutschland. Ihr Kollege Dr. Mike Barrett, wissenschaftlicher Chefberater des WWF-UK, spricht sogar von einer „Tragödie für Natur und Mensch“.
Zwar geht Steve Smith, der Co-Autor des Kipppunkt-Berichts, davon aus, dass „kleine Refugien“ überleben könnten, aber bis zu 90 Prozent der Riffe bei 1,5 Grad Erderwärmung absterben werden. Doch was würde dieser massive Verlust an Korallenriffen konkret bedeuten?
1. Verlust von Korallen – Verlust der Biodiversität
Korallenriffe sind wahre Schatzkammern der Meere: Obwohl sie weniger als ein Prozent des Ozeanbodens ausmachen, beherbergen sie rund 25 Prozent aller marinen Arten, darunter über 4.000 Fischarten. Experten der „Great Barrier Reef Foundation“ beschreiben sie als „Nährböden und Zufluchtsstätten“ für unzählige Lebewesen. Gehen die Riffe verloren, verschwindet nicht nur ein farbenprächtiges Ökosystem – sondern auch ein entscheidender Lebensraum für die Artenvielfalt der Meere.
2. Massive ökonomische Konsequenzen
Laut einiger Experten seien „Hunderte Millionen Menschen auf Riffe angewiesen“. Der Verlust könnte massive wirtschaftliche Schäden verursachen.
- Die Fischerei könnte kollabieren, da in den Riffen lebende Bestände verschwinden würden. Gesunde Korallenriffe liefern weltweit etwa 5–6 Millionen Tonnen Fisch pro Jahr, was rund 5–10 Prozent der globalen kommerziellen Fischfänge ausmacht.
- Dies würde nicht nur die Nahrungssicherheit für über eine Milliarde Menschen bedrohen, sondern auch Millionen von Arbeitsplätzen in der Fischerei- und Verarbeitungsindustrie.
- Im Tourismus könnten Einnahmen global wegfallen. Mapping Ocean Wealth bestätigt, dass Korallenriffe jährlich 36 Milliarden USD durch Touristen generieren.
- Durch Flutschäden könnten jährlich massive Kosten verursacht werden.
3. Kein Küstenschutz durch Korallenriffe
Eine im Magazin „Nature“ veröffentlichte Studie zeigt: Korallenriffe wirken wie natürliche Schutzwälle für Küsten. Sie dämpfen die Wucht von Wellen um bis zu 97 Prozent – besonders der Riffkamm absorbiert 86 Prozent der Energie. Damit sind sie ebenso effektiv wie teure künstliche Schutzmauern, die im Schnitt fast 20.000 US-Dollar pro Kubikmeter kosten.
Bis zu 200 Millionen Menschen, vor allem in Ländern wie Indonesien, Indien und auf den Philippinen, profitieren von diesem natürlichen Schutz. Ohne die Riffe wären sie Stürmen und Überschwemmungen schutzlos ausgeliefert – oder müssten immense Summen in künstliche Alternativen investieren.
4. Keine Medikamente mehr aus Korallen
Korallenriffe werden oft als „Unterwasser-Apotheken“ bezeichnet: Ihre immense Artenvielfalt produziert chemische Verbindungen, die potenziell gegen unterschiedlichste Krankheiten wirken können. Viele dieser Wirkstoffe stammen nicht direkt aus den Korallen selbst, sondern aus Organismen wie Schwämmen, Algen oder Mikroben, die auf den Riffen leben. Sogar Medikamente gegen Krebs oder Infektionen wurden aus Rifforganismen entwickelt.
„Korallenriffe besitzen eine enorme biologische Vielfalt und bieten damit ein nahezu unbegrenztes Potenzial für die Entdeckung neuer Wirkstoffe, die zu Medikamenten weiterentwickelt werden können“, erklärt Shirley Pomponi, Meeresbiologin und Geschäftsführerin des Cooperative Institute for Ocean Exploration.
Kurz vor COP30: „Wir können vor dem Unumkehrbaren noch umkehren“
Der Bericht warnt: In den kommenden Jahren dürfte die globale Durchschnittstemperatur die Marke von 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau erreichen. Damit stünde die Welt an der Schwelle zu weiteren Kipppunkten – mit potenziell unumkehrbaren Folgen für Klima, Ökosysteme und Gesellschaft.
Nur einen Monat vor der Weltklimakonferenz COP30 in Brasilien rufen die Autoren des „Global Tipping Points Reports“ deshalb zu entschlossenem Handeln auf: Weg von fossilen Energien, hin zu Erneuerbaren, mehr Schutz für gefährdete Systeme – und politische Entscheidungen, die Kipppunkte in ihre Risikoabwägungen einbeziehen.
„Wir können vor dem Unumkehrbaren noch umkehren“, mahnt Viviane Raddatz vom WWF Deutschland. Ihr Kollege Dr. Mike Barrett ergänzt: „Die Lösungen liegen in unserer Reichweite. Jetzt braucht es den Mut und die Führungsstärke, sie gemeinsam umzusetzen.“